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      Sarah Bowden / Manfred Eikelmann / Stephen Mossman / Michael Stolz

      Strategien der Narrativierung von Vergangenheit in der deutschen Literatur des Mittelalters

      XXV. Anglo-German Colloquium, Manchester 2017

      Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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      © 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

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      Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

      ISBN 978-3-7720-8695-3 (Print)

      ISBN 978-3-7720-0122-2 (ePub)

      Apocalypsis Johannis-Blockbuch (Ausgabe I, 1. Stand), um 1450–52 (Manchester, John Rylands Library, Blockbook 3103)

      Vorwort

      Vom 6. bis 10. September 2017 fand an der Universität Manchester das 25. Anglo-German Colloquium zum Thema ‚Geschichte erzählen: Strategien der Narrativierung von Vergangenheit in der deutschen Literatur des Mittelalters‘ statt. Die Fachtagung, deren Beiträge in diesem Band vorgelegt werden, hatte sich das Ziel gesetzt, die Darstellung von Geschichte in der deutschen Literatur des Mittelalters zu bilanzieren und neu zu erarbeiten. Geschehen ist dies auf der Basis von Forschungen zur narrativen Modellierung der als wahr geglaubten vergangenen Welt und mit dem Blick auf aktuelle wissenschaftliche Aufgabenfelder. Gegenüber der weit gediehenen Diskussion zur Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Erzählen rückt so wie schon die Tagung nun auch dieser Tagungsband Texte, Gattungen und Diskurse in den Blickpunkt, anhand deren sich die für die volkssprachliche Literatur spezifischen Strategien und Verfahren des Erzählens von Vergangenheit diskutieren lassen. Dabei ist die leitende Annahme, dass auch solche Erzählungen sprachlich-literarisch ‚konstruiert‘ sind, die sich nach dem eigenen Anspruch auf faktuale Ereignisse der Vergangenheit beziehen. Unter diesem Vorzeichen schließen die Beiträge zugleich an aktuelle narratologische Forschungen an, indem sie untersuchen, wie Vergangenheit erst im Erzählen zu Geschichte wird und welche komplexen Formen erzählerischer Organisation – von der Auswahl und Anordnung der erzählten Ereignisse über die Gestaltung der diegetischen Zeit und der Erzählstimme bis zum Stiften kollektiver Identität – von Fall zu Fall geschaffen werden.

      Bereits 1983 hatte das Anglo-German Colloquium mit einer Tagung zur älteren Debatte über das Geschichtsbewusstsein in der deutschen Literatur des Mittelalters beigetragen.1 Und obwohl sich das Konzept von Geschichte vor dem Hintergrund narratologischer Forschungen in der germanistischen Mediävistik stark weiterentwickelt hat, war es den in Manchester versammelten Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein Anliegen, ihr aktuelles Forschungsthema im Wissen um diesen für die Tradition der Colloquien beispielhaften Vorgängerband zu erörtern. Angesichts des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union stand das Colloquium in Manchester zugleich unter wissenschaftspolitischen Vorzeichen. Die intensive Zusammenarbeit auf der Tagung hatte daher nicht zuletzt das Ziel, den in der scientific community unverminderten Willen zur Fortsetzung der internationalen Kooperation wirksam zu signalisieren.

      Die Herausgeberin und Herausgeber danken der Fritz Thyssen Stiftung dafür, dass sie sowohl die Tagung in Manchester als auch die Drucklegung des Tagungsbandes großzügig unterstützt hat. Die Bereitschaft, eine Tagung außerhalb des deutschsprachigen Raums zu fördern, ist keineswegs selbstverständlich – dafür fühlen wir uns der Stiftung in besonderem Maße verpflichtet. Das John Rylands Research Institute finanzierte den öffentlichen Abendvortrag im Historischen Lesesaal der John Rylands Library. Für die zu jeder Zeit konstruktive Zusammenarbeit bei der Drucklegung des Bandes danken wir gerne dem Francke-Narr-Verlag in Tübingen und namentlich Tillmann Bub, der den Entstehungsprozess stets mit viel Geduld und gutem Rat äußerst kundig begleitet hat.

Sarah Bowden Manfred Eikelmann Stephen Mossman Michael Stolz

      Einleitung

       Geschichte erzählen und Narrativierung von Vergangenheit

       Sarah Bowden, Manfred Eikelmann, Stephen Mossman und Michael Stolz

      Mit seiner einflussreichen Monographie Metahistory von 1973 rückte der Historiker Hayden White die Geschichtsschreibung konsequent in den Blick der Erzählforschung.1 Er löste damit in der modernen Geschichtswissenschaft eine mitunter vehement geführte Debatte zu den grundlegenden sprachlichen Strukturen und dem Wahrheitsanspruch erzählender Historiographie aus, die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Bewirkt haben die Überlegungen eine neue Offenheit der Geschichtswissenschaft gegenüber literaturwissenschaftlichen Fragestellungen (linguistic turn), auch wenn etwa in der Erzählforschung seit einigen Jahren eine differenzierende und in den grundsätzlichen Fragen kritische Diskussion der poststrukturalen Prämissen Whites zu verzeichnen ist.2 Dieser Band und die ihm vorausgehende Tagung knüpfen an jene Grundsatzdebatte über das Verhältnis von Geschichte und Literatur an, beziehen sich aber zugleich auf zwei weitere, im Folgenden erläuterte Diskussionsfelder, was es ermöglicht, den Problembezug des Themas sachlich wie methodisch zu konkretisieren.

      1. Erzählen mit historischem Wahrheitsanspruch: Für den im Band untersuchten Gegenstand ist der in der germanistischen Mediävistik seit Ende der 1970er Jahre grundlegend erweiterte Literaturbegriff zentral.3 Er hat das Fach von der Beschäftigung mit einem bewährten Literaturkanon zur Erschließung neuer Texttraditionen und Gattungen geführt. Exemplarisch für diese Erweiterung des in der zweiten Auflage des Verfasserlexikons dokumentierten Text- und Wissenshorizontes ist die volkssprachliche Geschichtsschreibung des hohen und späten Mittelalters.4 Denn obwohl das Erzählen von Geschichte lange Zeit ein Randphänomen der Forschung war, liegt inzwischen eine ganze Reihe gründlicher Studien zu den Welt-, Landes-, Städte- sowie Ordens- und Hauschroniken des 12. bis 15. Jahrhunderts vor.5 Für die Erforschung des historischen Erzählens ist dies umso wichtiger, als nun komplementär zur intensiv erforschten volkssprachlichen Heldenepik, die ihrerseits als Vorzeitkunde gilt, eine genuin schriftliterarische Tradition der Geschichtserzählung mit hohem Forschungspotential verfügbar ist. Wie diese beiden Gattungen beispielhaft zeigen, ist historisches Erzählen an dem von Fall zu Fall anders begründeten Anspruch erkennbar, auf eine außertextuelle Wirklichkeit zu referieren, die von Einzelnen, einer Gruppe oder Gemeinschaft als faktuale Vergangenheit betrachtet wird. Auch wenn nicht zu bestreiten ist, dass Texte, die Geschichte erzählen, sprachlich-literarisch gestaltet und durchaus auch ‚Konstrukte‘ sind, ist das für sie wesentliche Kennmerkmal doch der von ihnen erhobene Anspruch, historische Wirklichkeit darzustellen, nicht aber eine fiktionale Welt, für die der Bezug auf eine als ‚wahr‘ angenommene Realität außerhalb des Textes gerade kein notwendiges Kriterium ist.6 Das aber heißt: Obwohl frühe mittelhochdeutsche Texte wie das Annolied und die Kaiserchronik nach ihrem eigenen Anspruch Geschichte darstellen, also res gestae erzählen und sich als historia rerum gestarum verstehen, sind sie zugleich Dichtung, die in ihrer literarischen Form wahrgenommen sein will.7 Auch die mittel- und frühneuhochdeutschen Heldenepen und Chroniken „folgen auf Schritt und Tritt Mustern, wie sie in literarischen Fiktionen ausgebildet wurden“, und „dennoch erheben sie den Anspruch, Aussagen über die Vergangenheit zu machen.“8 Im Sinne dieser gegenüber den Thesen Whites differenzierenden Position geht es im Rahmen des vorliegenden Bandes nicht mehr um die Frage, ob Geschichte ‚konstruiert‘ ist, sondern darum, wie die im historischen Erzählen geschaffenen ‚Konstrukte‘ angelegt und gemacht sind und wie das Erzählen von Vergangenheit narrativ organisiert ist.

      Aus

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