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Gedankenpause hinzuzusetzen, gleichsam wie nach einer nochmaligen Überlegung.

      Abwartend blieb er vor ihr stehen in der losen Haltung aller jener Leute, die ihr ganzes Leben lang den Rücken über die Bücher krümmen mussten. Mit seinem bartlosen, faltenreichen Gesicht, das schon die rostbraunen Flecke des Alters zeigte, und in dem langen, schwarzen Kontorrock (einem abgelegten Sonntagsrock), den er gegen sein Strassenjackett noch nicht eingetauscht hatte, machte er fast den Eindruck eines ehrwürdigen Lehrers vom Lande in den Darstellungen, wie sie auf Bildern typisch geworden sind. Nur eine gewisse Koketterie in der Wahl seiner Krawatte, das blendend-weisse Oberhemd unter der mässig ausgeschnittenen Modeweste und die schwere goldene Uhrkette — der Bestandteil eines Jubiläumsgeschenkes — gaben ihm einen Zug ins Moderne, dem er mit der Zeit doch nicht hatte widerstreben können; schon aus Rücksicht auf die stete Nähe der Frau Chef, die ihn so gern zu Rate zog.

      „Nehmen Sie doch einige Augenblicke Platz, lieber Herr Herold“, sagte Frau Frobel wieder und wies auf den Rohrsessel neben dem Schreibtisch, der solchen Unterredungszwecken diente. Gegen diesen alten Herrn, der sie schon als Backfisch gekannt hatte, war sie stets von grosser Zuvorkommenheit, die als besondere Auszeichnung aufgefasst werden konnte.

      „Ich möchte Sie nur um etwas bitten“, fuhr sie fort und brachte, noch im Stehen, rasch einige Briefschaften beiseite.

      Herold, der sich vor ihr nicht zu setzen wagte, vergass im Augenblick seinen Schwiegersohn und das Filet, denn er machte sich nun auf irgendeine Entlastung ihres Herzens über neue Aufregungen im Lazarett gefasst. Seit etwa acht Tagen sollte es mit Annemarie, der Jüngsten, nicht besonders gut stehen, so dass man bereits in Erwägung gezogen hatte, ob es nicht besser wäre, dass Herr Frobel, der im Geschäft eigentlich gar nicht zählte, sobald als möglich mit ihr nach dem Süden ginge. Solche Reisen wurden fast in jedem Jahr unternommen, und Frobel senior, der selbst „schwach auf der Brust“ war, wie man sein dispositionsloses Viveurtum zartfühlend an den Pulten umschrieb, hatte dann den Beschützer und Reisebegleiter zu spielen, was er sich, schon aus Gründen der eigenen Erholung, gern gefallen liess.

      Zu seiner Enttäuschung musste aber Herold erfahren, dass es sich nur um einen kleinen Auftrag handelte, den er, gewissermassen diskret, gleich in der Frühe des andern Tages ausführen lassen sollte. Frau Frobel wünschte zu einem bestimmten Abend einen guten I. Rang-Sitz zu einer Vorstellung im Theater des Westens, das sie allein zu besuchen wünsche.

      „Ich möchte aber nicht gern, dass mein Sohn etwas davon erfährt, weil ich gewisse Absicht damit verbinde“, fügte sie mit der Gleichgültigkeit einer Frau hinzu, die es selbstverständlich findet, dass man sich über den Grund ihres Vorhabens nicht den Kopf zerbreche.

      Herold jedoch, der des Abends, wenn er ermüdet von der Kontorarbeit nach Hause kam, seine Zeitung bis auf die letzte Zeile las und dem daher nichts verheimlicht blieb, was im grossen Berlin vorging, entfuhr es unwillkürlich: „Ei, ei, tritt da nicht wieder Herr Emmerich auf? Nach so langer Zeit wieder. Mir ist’s, als hätte ich es gelesen. Tja.“ Und bevor noch Frau Frobel etwas erwidern konnte, fügte er, ganz eingenommen von diesem Ereignis, hinzu: „Also hat er sich doch wieder emporgerafft, dieser Herr Don Juan, der uns so schwere Sorgen gemacht hat.“ Wenn der Alte „uns“ sagte, so sprach er gewissermassen im Namen des Geschäftes, oder doch im Sinne des Privatkontos, in dem der Buchstabe „E“ seine finanzielle Bedeutung hatte, die ausser Frau Frobel er allein nur kannte.

      Damit hatte es eine eigene Bewandtnis. Eines Tages, vor etwa fünfundzwanzig Jahren, hatte man Ernestines Mutter, Frau Kommerzienrat Brüning, die damals schon Witwe war, aber immer noch in den Spuren ihres Gatten wandelte, in ihrem Salon alles, was in der Kunst einen Namen hatte, um sich zu sehen, einen jungen, angehenden Tenor zugeführt, einen bildhübschen Menschen von grosser Figur, der, armer Leute Kind, weder Mittel noch Verbindung besass, den Schatz in seiner Kehle zu heben. Es dauerte nicht lange, so wurde er der umschwärmte Schützling Frau Brünings, die ihn ausbilden liess, ihn völlig erhielt und ihm zum ersten Siegeszug über die weltbedeutenden Bretter verhalf. Einige Jahre erfüllte sein Ruhm ganz Deutschland, man warf ihm das Gold in den Schoss, und unzählige Frauenherzen flogen ihm zu. Dann aber verlor er infolge eines Halsleidens — Boshafte meinten infolge seiner Trunksucht — seine Stimme; der Stern erlosch, und es trat ein, was immer bei gefallenen Grössen einzutreten pflegt: er geriet in Vergessenheit, vegetierte im Auslande und in den Provinzen und liess sich dann vorübergehend irgendwo als Gesanglehrer nieder, wo er nur noch eine lokale Rolle spielte.

      Gegen seine Wohltäterin hatte er sich sehr undankbar benommen, was ihm aber seines über Nacht entstandenen Grössenwahns und seiner exzentrischen Neigung wegen verziehen worden war, obgleich sie unter seiner Renommage mit ihrer Freundschaft, die zu Andeutungen aller Art Veranlassung gegeben hatte, sehr gelitten hatte. Und selbst dann noch, als er, zurückgekehrt in seinen Staub, sich mit Briefen späten Dankes der einstigen Gönnerin erinnerte, hatte sie eine offene Hand für ihn, die seltsamerweise später auch auf die Tochter überging und sich bis auf den heutigen Tag bewährte.

      Das ungefähr war die Geschichte, die zur Kenntnis Herolds gelangt war und ihm nun den Mut gab, eine scherzhafte Anspielung zu wagen. Und als er sah, dass keine Einwendung kam, fuhr er ermuntert fort: „Frau Frobel wollen sich gewiss davon überzeugen, ob seine Stimme noch nicht ganz passé ist.“

      „Ja, das will ich. Sie sorgen dafür, nicht wahr?“

      Es klang zwar freundlich, aber an der veränderten Tonart merkte er, dass diese Sache für sie erledigt sei. Einigermassen verschnupft stand er da, denn gar zu gern hätte er das Gespräch darüber weitergesponnen, weil ihn dieses Konto „E“ von jeher besonders interessiert hatte. Schliesslich war es doch wundersam, dass man immer noch bedeutende Summen an einen Menschen verschwendete, zu dem man persönlich gar keine Beziehungen mehr hatte, obwohl ihm von Frau Frobel einmal angedeutet worden war, dass sie damit nur eine letzte Bestimmung ihrer Mutter erfülle. Aber es war nicht seine Aufgabe, sich den Kopf hierüber zu zerbrechen, selbst wenn dieser Grossmut tiefere, geheimnisvolle Dinge zugrunde lagen. Was konnte sich eine Millionenfirma nicht alles leisten! Er hatte nur zu buchen und zu schreiben. Punktum.

      Dann aber sagte er verbindlich, um Gelegenheit zur Verabschiedung zu finden: „Wenn Sie nichts dagegen hätten, Frau Frobel, würde ich das Billett selbst besorgen. Ich ginge einmal früher zu Tisch.“

      Sofort war sie wieder die Gütige. „Das wäre mir eigentlich das liebste, Herr Herold. Wie gesagt, soll mein Sohn nichts davon wissen.“

      Obgleich noch Hans Gerhard, der Älteste, vorhanden war, sprach sie im Geschäft nur von Günther, als von ihrem Sohne, was man auch erklärlich fand, weil dieser nur der Firma diente. Und da Herold wusste, dass der junge Frobel sich über diese „unverständliche Wohltätigkeit“ seiner Mutter bereits mehrmals aufgehalten hatte, so fand er diesen Standpunkt auch erklärlich.

      „Es freut mich, dass Sie mich verstehen“, sagte sie durchaus liebenswürdig. Kein Zug in ihrer Miene verriet, was dabei in ihrem Innern vorging. Die Linke auf den Rand des Schreibtisches gestützt, den Oberkörper der elektrischen Flamme zugeneigt, überflog sie anscheinend gespannt ein Schriftstück, nach dem sie inzwischen gegriffen hatte, und markierte so die ewig beschäftigte Frau, die kleine Dinge nebensächlich abtut, ohne sich in den grossen dadurch stören zu lassen. Dann legte sie den Brief wieder fort, tat einen grossen Atemzug und ging zur geöffneten Tür, um einen Blick in die menschenleeren Räume zu werfen. Und als sie sich davon überzeugt hatte, dass der Kontordiener, der da hinten noch herumlungern musste, nicht zu sehen war, nahm sie ihren Platz am Schreibtisch ein und gab Herold stumm einen Wink, sich endlich zu setzen.

      „Sagen Sie, — haben Sie vielleicht eine Ahnung, wo mein Sohn jetzt des Abends steckt?“ begann sie unvermittelt. Seit ein paar Wochen wird mir die Sache zu bunt. Er fängt an zu bummeln.“

      Herold, der endlich etwas Tragisches erwartet hatte, lachte unwillkürlich.

      „Die Sache ist nicht zum Lachen, lieber Herr Herold“, warf Frau Frobel ein. „Im Gegenteil, — sie ist sehr ernst. Und deshalb hoffe ich auf Ihre Hilfe. Ich weiss ja, dass Sie sehr von ihm eingenommen sind, aber auch er hat viel für Sie übrig. Er kroch Ihnen ja schon als Kind gewissermassen zwischen den Beinen herum. Und

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