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von Tod und Leben ab, in der er eine Variante des christlichen Jenseits zu sehen vermeint. Er gesteht zu, dass er sich damit im Reich des reinen Mythos bewegt, der für ihn jedoch erfahrungsgesättigt ist. Und er stellt die Frage, die unentwegt an Rilkes Dichtung gestellt wurde und weiterhin wird: Handelt es sich um artistische Exerzitien im Geist des l’art pour l’art (Mallarmé, Valéry) oder gar um bloße Hirngespinste (Gefasel)? Marcel hält dieser Deutung Rilkes Selbstauslegungen in seinen Briefen entgegen und betont die „paränetische Tragweite“ der Dichtung. Anders gesagt: Er liest Rilkes Dichtung als Zuspruch und Ermahnung religiöser Natur. Ohne zu ahnen, was Heidegger in dieser Zeit (1942/1943) wirklich von Rilke denkt, kommt er – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen – zu einem vergleichbaren Schluss: Heidegger hat den Begriff des „Offenen“ (aletheia/Unverborgenheit bei ihm) als das „tief unwahre Wort“ bezeichnet, das das „völlige Gegenteil“ seines eigenen Denkens darstelle. Es geht dabei im Wesentlichen um folgende Verse aus der 8. Elegie: „Mit allen Augen sieht die Kreatur / das Offene […] das freie Tier hat seinen Untergang stets hinter sich und vor sich Gott, und wenn es geht, so geht’s in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen“ (Vers 1–13). Die Anklage lautet: „verunglücktes Christentum“, vor allem aber „biologische Metaphysik“, „völlige Seinsvergessenheit, die der Psychoanalyse zugrunde liegt“, „Nietzsche und Schopenhauer“. Rilke leugne die einzigartige Position des geschichtlichen Menschen, vermenschliche Tier und Pflanze und vertiere den Menschen.22 Erstaunlich ist folgende Parallele: Marcel schlägt vor, den schwer übersetzbaren Begriff des „Offenen“ durch „le large“, d.h. das offene Meer zu ersetzten.23 Heidegger kommt ebenfalls zum Vergleich mit dem „offenen Meer“: „Das Grenzenlose im Ganzen lässt sich nach einer ungefähren Art zu reden auch ‚Gott‘ nennen.“ (Was Rilke unter Gott oder Göttern versteht, ist eher eine poetische als eine theologische Frage). Heidegger fährt fort: „So fällt in dieser Elegie das Wort: ‚das freie Tier / hat seinen Untergang stets hinter sich / und vor sich Gott, und wenn es geht, so geht’s / in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.‘“ Marcel hat die negative Möglichkeit ins Auge gefasst, es könne sich um „Gefasel“ handeln. Heidegger ist kategorisch: „Das klingt alles sehr befremdlich und ist doch nur eine dichterische Gestaltung der biologischen Popularmetaphysik des ausgehenden 19. Jahrhunderts“.24 Ein philosophisches Volkslied? (Nach 1945 hat er seine Meinung radikal geändert).

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