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auffahren, aber Pawel greift warnend nach ihrer Hand und hält sie fest. „Die Frau ist in meiner Begleitung. Haben Sie etwas dagegen, General, daß ich gleichfalls mitkomme?“

      „Meinetwegen!“ Der „General“ scheint eine wichtigere Beute zu suchen. Er zuckt nur flüchtig die Achseln und wendet sich dem nächsten Abteil zu. Seine „Soldaten“ machen Miene, Helle aus dem Abteil zu ziehen, aber Pawel Karlowitsch hat sich breit in der Tür aufgepflanzt.

      „Nur langsam, Freundchen! Wir kommen freiwillig!“

      Die Soldateska zwitschert, schimpft und zetert durcheinander aber ein scharfer Ruf des Anführers reißt sie weiter nach vorn. Helle schreit unwillkürlich auf. Irgendwo da vorne im Wagen knallen zwei Pistolenschüsse. Ein heiserer Todesschrei gellt auf und bricht jäh wieder ab.

      „Um Gottes willen,“ stammelt Helle angstvoll, „um Gottes willen ...“

      „Das da vorne geht uns nichts an. Kommen Sie, Genossin!“ Pawel Karlowitsch ist die Ruhe selbst. Keine Bewegung an ihm verrät Besorgnis oder gar Furcht. Eilig, aber ohne Aufregung hilft er Helle den Koffer aus dem Netz heben und den Mantel anziehen.

      Da steht schon wieder ein Gelber an der Tür, aufgeregt schimpfend und befehlend. Pawel nimmt Helles Koffer und schiebt sie selber aus dem Abteil. Wie im Traum taumelt sie durch den engen Korridor, an wildblickenden, bewaffneten Banditen vorbei. Pawel muß sie fast herunterheben von dem hohen Trittbrett.

      Überfall am hellichten Tage! Die Nachmittagssonne steht noch über den endlosen Steppen, aber rings um den Zug wimmelt es von Mongolen. Ein paar alte Lastautos harren drüben. Vorne an der Lokomotive hält eine Gruppe Banditen das Zugpersonal und die russische Begleitwache in Schach. Die Telefondrähte längs der Bahn sind zerschnitten.

      „Fliehen ist zwecklos!“ sagt Pawel Karlowitsch leise, die Gedanken Helles erratend. „Man würde uns doch einholen oder uns ein Dutzend Kugeln nachsenden. Bleiben Sie nur ja ruhig stehen!“

      Bewaffnete springen wie Katzen von den Eisenbahnwagen. Einige von ihnen schleppen Koffer und Aktentaschen mit. Ein paar Reisende, die protestierend nachdrängen wollen, werden mit Bajonetten bedroht oder mit Kolbenstößen zurückgetrieben.

      „Keine Gefangenen!“ stellt Pawel Karlowitsch halblaut fest. „Wir sind die einzigen. Das heißt: Sie. Denn mich wollten die Brüder ja weiterreisen lassen.“

      Zitternd klammert Helle sich an seinen Arm. „Lassen Sie mich nicht allein, Herr Gentzer! Nicht allein mit den ... den Menschen!“

      „Ich bleibe bei Ihnen! Nur ruhig Blut! Ich glaube, es ist kein Grund zur Besorgnis!“

      Nun kommt auch der Anführer der Räuberbande aus dem Zug, ein befriedigtes Lächeln um die dünnen Lippen. Seine Befehle scheuchen die Banditen zu den Lastwagen zurück. Nur die Gruppe mit dem Maschinengewehr bleibt im Anschlag am Bahndamm. Vorne bei der Lokomotive ist noch ein lebhaftes Parlieren und Verhandeln zwischen den Banditen und dem Zugpersonal. Dann steigen die Beamten hastig auf. Die Wagenreihe zieht an, setzt sich in Bewegung.

      „Hier sind wir, General.“ Pawel Karlowitsch hat sich eine Zigarette angezündet und vertritt dem vorüberhastenden Anführer den Weg, während Helle, halb bewußtlos vor Angst und Entsetzen, den Zug davonrollen sieht. „Gewähren Sie mir eine kleine Unterredung!“

      „Nachher!“ schnarrt der „General“. „Keine Zeit jetzt! Machen Sie, daß Sie mit der Frau zu den Autos kommen!“

      Pawel Karlowitsch führt die Zitternde hinüber zu den Lastwagen und hilft ihr aufsteigen. Im Nu sind die Kraftwagen von sich drängenden, krächzenden, schimpfenden Mongolen überfüllt. Eingepreßt zwischen den übelriechenden Gelben, drückt Helle sich, erschauernd, dicht an Pawel Karlowitsch, der sie gelassen auf eine der primitiven Holzbänke zieht und schützend den Arm um sie legt. Drüben bei dem zweiten Lastwagen werden noch Koffer und Kisten unter Geschrei aufgeladen. Und noch etwas hat man aus dem Zug gebracht und wirft es jetzt brutal auf den Wagen. Unter einer Decke zeichnen sich deutlich die Umrisse einer menschlichen Gestalt ab. Ein Paar kleine, zierliche Füße, mit Lackschuhen bekleidet, ragen seltsam steif und starr unter der Decke hervor.

      Ein Toter!

      Helle schließt erschauernd die Augen.

      *

      Es ist spät in der Nacht, als die Lastwagen ein Burjätendorf erreichen. Wie runde Erdbuckel stehen die Jurten in der hellen Nacht. Gespenstisch wehen an langen, dünnen Holzstangen die bunten Fetzen der Gebettücher. Durchrüttelt und gerädert von der langen Fahrt, läßt Helle sich von Pawel Karlowitsch herunterheben und sinkt drinnen in einer Jurte willenlos auf einen Haufen Strohmatten. Die Luft ist heiß und stickig hier drinnen, aber die Aufregung der letzten Stunden läßt die ermüdeten Nerven Helles vollständig erschlaffen. Noch während die Mongolen durch die niedrige Tür hineindrängen und sich ringsum, so wie sie sind, auf Erdboden und Matten zum Schlaf hinwerfen, ist Helle Beier in einen schweren, tiefen Schlaf gesunken. Pawel Karlowitsch aber steckt sich eine neue Zigarette in den Mund, verteilt die übrigen freigebig unter die gelben Banditen und schlendert hinaus, um den „General“ aufzusuchen.

      Was zwischen ihm und dem „General“ drüben in der Jurte, die das Hauptquartier des Bandenführers bildet, verhandelt wird, weiß niemand. Aber zwei Stunden später, als das erste Tagesleuchten über die Steppe geistert, rüttelt eine Hand kräftig an Helles Schulter. Mit einem unterdrückten Schrei fährt sie aus ihrem Schlaf auf und setzt sich aufrecht. Ringsum schnarchen die bewaffneten Männer. Zum Ersticken, Übelkeit verursachend ist die verbrauchte warme Luft in der Jurte. Pawel Karlowitsch steht vor dem entsetzten, nach Atem ringenden Mädchen und lächelt beruhigend.

      „Alles in Ordnung, Fräulein Beier. Der ‚General‘ hat uns freigegeben. Aber kommen Sie schnell! Wenn die Brüder da aufwachen, gibt es endlose Verhandlungen und vielleicht neue Schwierigkeiten. Sie hoffen auf ein großes Lösegeld für Sie und werden nicht damit einverstanden sein, daß der ‚General‘ Sie laufen läßt.“

      Draußen steht einer der primitiven Burjätenkarren, auf dem ein in dickwattierte Röcke verpackter alter Burjäte wartend sitzt. Kaum halb wach, läßt Helle sich hastig in die Decken und Strohmatten wickeln, die der Wagen birgt. Erst als die Jurten am Horizont versinken und der Karren knarrend über die Grasnarbe rumpelt, kommt ihr richtig zum Bewußtsein, daß sie den unheimlichen, bewaffneten Banditen wirklich entronnen ist.

      „Etwas Brot hab’ ich gerettet,“ hört sie neben sich die ruhige Stimme Pawels, der ihr ein großes Stück Weißbrot anbietet. „Sie müssen vorlieb nehmen.“

      Mechanisch bohren sich ihre Zähne in das Brot. Ihre Augen suchen den Reisegefährten. „Ich verstehe gar nichts von alledem, Herr Gentzer! Warum hat man uns aus dem Zug verschleppt? Warum hat man uns jetzt freigelassen? Haben Sie ... haben Sie dem Räuberhauptmann Lösegeld für mich gegeben?“

      „Nein!“ schüttelt Pawel ruhig den Kopf. „Ich trage auf meinen Reisen nur wenig Geld bei mir. Ich hab’ dem ‚General‘ auseinandergesetzt, daß er mächtige Unannehmlichkeiten mit der fernöstlichen Armee bekommen würde, wenn er uns festhielte. Schließlich sah er es ein. Über meine Person und meine russische Staatsangehörigkeit konnte ich mich ausweisen. Von Ihnen hab’ ich ihm erzählt, daß Sie zwar Deutsche sind, aber — ein bißchen schwindeln mußte ich schon, um uns loszueisen — daß Sie auf der Reise zu Ihrem Bräutigam sind, der Offizier der fernöstlichen Armee sei.“

      „Und das hat er geglaubt?“

      Pawel zuckt die Achseln. „Jedenfalls hat er’s für möglich gehalten. Und vor der russischen Armee haben die Burschen Respekt. Sie werden schon von den Japanern und Mandschus hier tüchtig gejagt. Setzen sie sich außerdem noch einer Verfolgung durch die Fernost-Armee aus, so sind sie verloren. Das wissen die Brüder ganz genau.“

      „Glauben Sie, daß wir die Bahnlinie wieder erreichen?“

      Pawel zieht die Brauen hoch. „Das würde uns wenig nützen, denn wir können keinen Zug auf offener Strecke zum Halten bringen. Wir fahren südwärts und müssen versuchen, den nächsten japanischen Grenzposten zu erreichen. Von dort gelangen

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