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      Mit einer unmutigen Handbewegung heißt Helle ihn schweigen. „Bitte, fahren Sie fort, Herr Suru!“

      „Ich habe nicht mehr viel zu sagen.“ Der Japaner macht eine höflich bedauernde Handbewegung. „Es war sehr schade, daß Herr Asanjew uns erst nach der erfolgten Abreise aufmerksam machte. Wir haben Recherchen eingezogen, aber nichts feststellen können, was die Vermutung des Herrn Asanjew bekräftigen könnte. Herr Dobkin ist allein und anscheinend ohne jeden äußeren Zwang nach Rußland gereist.“

      Helle hat ein spöttisches Lächeln um ihre Lippen. „Nun also, Herr Suru. Dann besteht für mich doch wirklich kein Grund, ihn nicht zu besuchen. Oder wird die japanische Polizei mich vielleicht daran hindern?“

      „Aber durchaus nicht, meine Dame!“ verwahrt sich der Japaner lebhaft. „Sie können reisen, wann und wohin es Ihnen beliebt. Ich möchte Ihnen für diese Reise nur einen bescheidenen freundschaftlichen Rat geben. Sie sind Deutsche. Seien Sie vorsichtig, sehr vorsichtig in Ihren Äußerungen, sobald Sie auf russischem Boden stehen! Ich kenne die Methoden drüben. Selbst das harmloseste Wort kann genügen, Sie ins Gefängnis zu bringen.“

      „Danke!“ sagt Helle kühl. „Ihr guter Rat ist überflüssig, Herr Suru. Ich reise zu meinem Verlobten, weiter nichts. Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands sind mir total gleichgültig. Ich habe keinerlei Veranlassung, mich darüber zu äußern, und also wird man auch mich nicht behelligen.“

      Der Japaner empfindet die Ablehnung in ihren Worten und erhebt sich sofort. „Bitte, verzeihen Sie die Belästigung, meine Dame! Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.“

      „Wofür die sich alles interessieren!“ Helle sieht kopfschüttelnd dem kleinen Herrn Suru nach und hängt sich dann vergnügt in den Arm des Bruders. „Komm Heinz! Wir wollen uns von Begas und den anderen verabschieden. Bis Yokohama begleitest du mich doch?“

      „Ja. Begas behilft sich heute abend ohne mich. Bis zum Nachmittagskonzert morgen kann ich ja zurück sein. Aber ...“

      „Kein Aber, mein Junge! Ich reise! Natürlich schreib’ ich dir von Wladiwostok und von Irkutsk. Die Anschriften eurer Stationen auf der Tournee hab’ ich ja!“

      2. Kapitel

      Kalt weht der Wind über Wladiwostoks niedrigen Dächern. Dennoch wundert sich Helle Beier erheblich über die dicken Pelze und Mäntel, in denen die Russen bereits vermummt gehen. Es ist schließlich erst Ende September und noch keine „sibirische“ Kälte. Sie selber findet gar keinen Grund, einen Pelzmantel über ihr warmes, dickes Reisekostüm zu ziehen.

      Das ist also Fernost, das Ausfalltor Rußlands gegen das Japanische Meer. Helle Beier findet ihre Annahmen im großen und ganzen bestätigt und ist guten Mutes. Zwar ist es etwas sonderbar und unangenehm, daß man im Bahnhofsrestaurant stundenlang auf das Essen warten muß, weil das Bedienungspersonal eben seine Freizeit hat, und unter den Gesichtern, die ihrem Blick begegnen, sind viele bedrückte, scheu und ängstlich dreinschauende Mienen. Aber — die Reise auf dem russischen Dampfer war ganz angenehm, und auch bei der Paßkontrolle hat man ihr keine besonderen Schwierigkeiten gemacht. Keine Leibesvisitation, keine mißtrauischen Verhöre. Die Zigaretten rauchenden Beamten haben nur ihr Visum genau geprüft, ihren Koffer einer Durchsicht unterzogen und ihr dann mit einem gleichgültigen „Choroscho!“ den Weg freigegeben.

      Allerdings, von Soldaten und Polizisten wimmelt es hier. Auf der kurzen Fahrt vom Hafen zum Bahnhof sind ihr dauernd Militärpatrouillen begegnet, und an jeder Straßenecke steht ein bis an die Zähne bewaffneter Milizionär. Aber das ist in Japan auch nicht viel anders. Und schließlich ist Wladiwostok Festungsgebiet.

      Nun, Helle Beier geniert das wenig. Sie hat kein Interesse an militärischen Anlagen und daher auch keinen Versuch gemacht, etwa abseits von der Hauptstraße in Wladiwostok auf Entdeckungsfahrten zu gehen.

      In dem überheizten Wartesaal ist eine dumpfe, stickige Luft. Helle nimmt, gleich nachdem sie etwas gegessen hat, ihren Handkoffer und geht wieder auf den Bahnsteig hinaus. Im Speisesaal waren nur wenig Menschen, fast durchweg europäische Herren, die das alleinreisende hübsche Mädchen mit neugierigen und, wie ihr scheinen wollte, etwas mißtrauischen Blicken betrachteten. Es waren ein paar sehr nett und solide aussehende angelsächsische Gentlemen darunter, und Helle hat sich ein bißchen gewundert, daß keiner dieser Herren auch nur den leisesten Versuch machte, eine Unterhaltung mit ihr anzuknüpfen. Sonst hat ihre schlanke Erscheinung, ihr hübsches, eigenwilliges Gesicht oft genug mitreisende Herren bewogen, eifrig eine kleine Reisebekanntschaft anzuknüpfen. Und grade hier hätte Helle nichts dagegen gehabt, mit einem sympathischen Herrn ein paar Stunden der langen Fahrt zu verplaudern. Merkwürdig, daß die Gentlemen so übermäßig zurückhaltend sind!

      Waren im Wartesaal nur verhältnismäßig wenige Reisende, so wimmelt es dafür hier auf dem Bahnsteig von Menschen. Russen, die ihre Betten und den halben Hausrat mit sich schleppen, ganze Klumpen von dürftig gekleideten Männern und Frauen, die sich, den unentbehrlichen Teekessel in der Hand, um den „Kipjatok“, den großen Warmwasserbehälter, drängen. Dazwischen armselige, in schmutzige, durchlöcherte Schafpelze gehüllte Gestalten, die gruppenweise mit stumpfem Gesichtsausdruck auf ihren Kisten und Ballen kauern, und schlitzäugige, schmutziggelbe Mongolengesichter: Burjäten, Tungusen, Tartaren. Natürlich auch eine Menge von Soldaten der fernöstlichen Armee, hohe Gestalten, die in ihren tadellosen Stiefeln und dicken, schönen Mänteln von den dürftig gekleideten Zivilisten stark abstechen.

      „Stoi!!“

      Helle wendet sich bei dem lauten Ruf um und sieht zu ihrer Verwunderung, wie ein schlanker, hochgewachsener Mann, der in ihrer Nähe gestanden hat, plötzlich in langen, wilden Sätzen den Bahnsteig entlang saust und sich wie ein Sturmbock gegen die Gruppen wirft, die ihm den Weg versperren. Ein paar Minuten gibt es hinter der rasch zusammengeströmten Menschenmasse ein wüstes Getobe und Geschimpfe. Helle kann nicht sehen, was dort vorgeht. Sie hört nur laute Stimmen und sieht über die Köpfe ein paar Polizeihelme ragen. Dann teilt sich die Menge, und der Mann, der vorhin davonjagte, kommt wieder zum Vorschein. Wahrhaftig, er kommt direkt auf sie zu!

      „Hier ist Ihr Koffer, Genossin,“ sagt eine sympathisch warme Stimme. „Ich sah eben, wie der Kerl sich damit aus dem Staube machen wollte.“

      „Mein Koffer?“ Helle sieht fassungslos auf das Gepäckstück in der Hand des Mannes und entdeckt erst jetzt zu ihrem Entsetzen, daß der Handkoffer, der dicht neben ihr gestanden hat, verschwunden ist. „Das ist doch ... Ich hab’ nicht einmal bemerkt, daß jemand ... Vielen Dank, mein Herr!“ Helle hat von Kola Dobkin im Laufe der Zeit genügend russisch gelernt, um sich in dieser Sprache einigermaßen verständlich machen zu können, aber in der Aufregung sprudelt sie unbewußt die Sätze auf deutsch heraus. Der unerwartete Helfer lächelt vergnügt.

      „Ach, Sie sind eine Deutsche? Das ist ja sehr schön. Da können wir ebensogut deutsch reden.“

      „Sind Sie denn etwa auch ...?“

      „Pawel Karlowitsch Gentzer heiß’ ich.“ Der Mann lüftet ein wenig seine Lammfellmütze. „Bin zwar in Sibirien geboren, aber mein Vater war aus Deutschland.“

      Eine Glocke schlägt gellend an. Prustend und fauchend schiebt sich die lange Wagenreihe des transsibirischen Expreß an den Bahnsteig. Ein Höllenlärm hebt an. Schreiend, rufend, scheltend drängen sich die Menschen mit ihren Koffern, Ballen und Kisten durcheinander. Soldaten fluchen und brechen sich mit rücksichtslosen Ellbogenstößen Bahn. Um die schmalen Türen der Wagen ist ein Drängen, Stoßen und Schreien, als sei eine Panik ausgebrochen.

      Pawel Karlowitsch hat sich durch ein paar knappe Fragen über das Reiseziel Helles vergewissert und geleitet sie sachkundig und umsichtig zu einem Abteil der „Fremdenklasse“.

      „Haben Sie nochmals recht herzlichen Dank!“ Dem Wirrwar auf dem Bahnsteig glücklich entronnen, sieht Helle sich aufatmend in dem sehr bequem und luxuriös eingerichteten breiten Abteil um und streckt ihrem Helfer die Hand entgegen. „Reisen Sie auch nach Irkutsk, Herr Gentzer?“

      „Genosse Gentzer,“ verbessert Pawel Karlowitsch ruhig.

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