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Kojas Waldläuferzeit. Alois Theodor Sonnleitner
Читать онлайн.Название Kojas Waldläuferzeit
Год выпуска 0
isbn 9788711570043
Автор произведения Alois Theodor Sonnleitner
Издательство Bookwire
Mit einem Schlag war der Neudamüller ein Besitzloser geworden. Er verbrachte die Tage in stumpfer Ratlosigkeit. Nicht so die Mutter, nicht so Agi. Sie suchten für den Vater eine Anstellung. Sie fragten in der Krummnussbaumer Tonwarenfabrik an; dort war kein Kutscherposten frei; Hilfsarbeiter hatte man mehr als genug; und in der Töpferei brauchte man gelernte Gehilfen. Sie fragten in der Dampfsäge auf dem Rechen, sie fragten in Pöchlarn herum, ja sie wanderten zu Fuss drei Stunden weit nach Melk, wo sie hofften, dass der Vater als Kutscher oder Knecht im Brauhaus oder in der Meierei des Benediktiner-Stiftes unterkäme. Sie erreichten Versprechungen und Vormerkungen — bis ein Platz frei würde. Aber sie konnten nicht warten. In vier Wochen musste die Wohnung in der Mühle geräumt sein; die Wohnstube sollte das Schenkzimmer der Arbeiterkantine werden. Der Agent hatte schon die Oberstube im Hause bezogen und betrieb den Verkauf des Viehs, der Ackergeräte, der Vorräte von Holz und Mehl. Der Betrieb war eingestellt. Ein Dienstbote nach dem andern schied. Schon wimmelte es von fremden Arbeitern, die in der Au Bäume fällten, um für die Baracken Raum zu gewinnen, und Baumaterial herbeiführten. Wo der Mühlbach von der Erlaf abzweigte, wurde der Zufluss durch eine Pfostenschleuse abgeschlossen, das trockengelegte Bachbett wurde vertieft. Es musste auszementiert werden; der Betriebskanal für die Turbinen musste ja jederzeit gereinigt werden können.
Eine Woche vor Ablauf der Frist kehrte Mutter Maria mit Agi wieder von einem erfolglos gewesenen Gange heim. Zwei Stunden waren sie neben dem Geleise der Westbahn von Melk bis Pöchlarn gewandert und jetzt hatten sie noch eine Stunde zu gehen bis in die Neuda.
Müde und hoffnungslos setzten sie sich auf den Rand der Böschung vor dem Pöchlarner Bahnhof. Sie weinten beide; keine wusste der andern einen Trost. Sie sollten aus der Neudamühle übersiedeln und wussten nicht wohin. Sie sollten leben und wussten nicht wovon.
Von ihnen unbemerkt war ein Herr vor ihnen stehen geblieben. — „Guten Abend!“ —
Mutter und Tochter sahen auf; ging der Gruss sie an? Wortlos schauten sie auf den Fremden, dessen Gesicht unverhohlenes Mitempfinden zeigte. Er knöpfte seinen schwarzen Tuchrock bedächtig zu, strich mit beiden Händen den grau durchsetzten Kaiserbart vom glattrasierten Kinn, lüpfte noch einmal den Halbzylinder und wiederholte seinen Gruss: „Guten Abend.“ Frau Maria erhob sich und mit ihr Agi. — „Guten Abend! — ein Herr vom Gericht?“ — „Nein, ich bin der Baumeister Prokop aus Wien.“ — „Ich bin Maria Lorent, die ehemalige Besitzerin der Neudamühle.“ Sie sprach es lebhaft, ihr war der Gedanke gekommen, der freundliche Fremde könnte helfen. „Sie haben geweint?“ kam er ihr entgegen. Und nun fasste sich Frau Maria ein Herz und erzählte kurz und schlicht den Verlauf der letzten Ereignisse. Sie schilderte ihr vergebliches Suchen nach Arbeit für ihren Mann und erzählte, was der Oberlehrer über Kojas Begabung gesagt hatte. — „Ist Ihr Mann gesund und arbeitsfähig?“ forschte der Fremde weiter. „Ja!“ gab sie in steigendem Hoffen zurück. — Da zog der Baumeister einen Schlüssel aus der Tasche. „Kommen Sie mit mir.“ Gegenüber vom Bahnhof öffnete er die Tür im Bretterzaun, der einen sehr grossen Hof und ein stattliches Gebäude umschloss. Voranschreitend führte er die Beiden, erschloss erst die Haustüre und dann im Halbstock die Türe seiner Baukanzlei. Als sie Platz genommen hatten, begann er: „Das Gebäude hier ist jetzt unbenützt. Solange ich mit den Bahnhofbauten der neuen Bahn Pöchlarn—Kienberg—Gaming beschäftigt war, hatte ich hier meine Betriebsstelle und mein Absteigequartier. Jetzt beabsichtige ich, die Räume als Wohnungen ans Bahndienst-Personal zu vermieten. Ihren Mann bring’ ich als Lagerhaus-Arbeiter oder als Packer auf dem Pöchlarner Bahnhof unter. Das kann ich gleich morgen bei der Direktion durchsetzen. Man wird ihm wohlwollen, weil man etwas auf mich hält. Er kann Verschieber, Bremser, Kondukteur (Schaffner), er kann Zugführer, ja, wenn er sich bewährt, auch Revisor werden.“ — Mit offenem Munde lauschten Frau Maria und Agi, schon wollten sie danken; der Baumeister aber winkte ab: „Hören Sie weiter: Der Lohn Ihres Mannes wird anfangs gering sein; versteh’n Sie sich auf Nadelarbeit?“ — „Ja, ja, Wäsche!“ riefen Mutter und Tochter zugleich. — „Meine Frau wird Ihnen aus ihrem Bekanntenkreise Kunden verschaffen, die hier in der Nähe ihre Landsitze haben.“ — Er trat ans Fenster, durch das die Strahlen der sinkenden Sonne schräg einfielen. „Schauen Sie da hinunter, der weite Hof ist noch bedeckt mit den Resten des Bahnbau-Materials.“ — In dem eingeplankten Raum, der wohl vierzig Meter im Geviert haben mochte, lagen Reihen von kleinen, rostüberzogenen Rädern, die paarweise durch die Achsen verbunden waren, umgestürzte Draisinen,b) geschichtetes Gerüstholz, mit Eisenklammern verhängte Pfosten und angemoderte Bahnschwellen.c) — „Das Eisen wird dem nächsten Bahnbau vielleicht noch dienen. Aber das Holz geht zugrunde; bei der Billigkeit des neuen Werkholzes lohnt es sich mir nicht, mich mit der Verfrachtung und Verwertung des kaum mehr Brauchbaren abzugeben.
Wenn Sie hier wohnen, wird Ihnen ein Teil des Holzes zum Aufheizen zugesprochen; nicht nur Ihnen, sondern jeder Mietpartei; jede kann’s brauchen.
Ihnen und Ihrem Mann werden Feld- und Gartenbau. Geflügel- und Kleintierzucht zusagen; hier ist Boden und Raum genug. Nur müssen sich die Mieter vertragen. Ich gebe Ihnen im Oberstock das grosse Wohnzimmer und die geräumige Küche, von der eine Tür in andere Räume führt, die ich dem Zugführer Ratz zugesagt habe.“ Während er sprach, holte er einen Schlüssel aus einer Schreibtischlade. „Die Zwischentür wird abgesperrt und kann mit einem Schrank verstellt werden; der Mietzins beträgt vier Guldend) im Monat; den zahlen Sie mir später wie Sie können. Und einziehen können Sie, wann Sie wollen, schon morgen.“ Durch den Schleier hervorquellender Tränen schauten Agi und Mutter staunend auf den Baumeister, der so fürsorgend auch Nebensächliches mit bedachte. Aber statt allen Dankes sprach Frau Maria, indem sie sich erhob, langsam, jedes Wort erwägend: „Sie sind ein guter Mensch.“ — „Das hör’ ich von meiner Frau öfter,“ erwiderte er lächelnd. Beim Abschied überreichte Herr Prokop der Frau Maria drei Schlüssel. „Solange Sie allein hier wohnen, tragen Sie die Verantwortung fürs Haus. Sobald der Lampist Zimmerl in die untere Wohnung einzieht, übergeben Sie ihm den Haustorschlüssel. Und jetzt, Kopf hoch! Frau Lorent! vielleicht ist’s für Ihren Jungen ein Glück, dass er es miterlebt, wie Sie sich aus engen Verhältnissen herausarbeiten. Dabei lernt er mehr als aus Büchern. — Lassen Sie ihn als armen Studenten seine Laufbahn beginnen. Auch ich war ein mittelloser Student, der sich durch Stundengeben fortbringen musste; habe bei guten Menschen Freitisch gehabt. Und seit Jahren ist es meiner Frau und meine grösste Freude, täglich drei arme Studenten des nahen Mariahilfer-Gymnasiums bei Tische zu haben. — Wenn Ihr Koja nach Wien kommt, mag er mich aufsuchen. — Auch ich hab’ einen Sohn gehabt; und der ist mir zwei Wochen nach seiner Promotion zum Doktor gestorben.“ Mit kurzem Handdruck machte er dem Gespräch ein Ende.
Frau Maria und Agi traten mit gemischten Gefühlen den Heimweg an. — Ihrem Retter war sein einziger Sohn gestorben, als er das Ziel seiner langen Studien erreicht hatte. Und der Mann war nicht verbittert! Im Wohltun fand er seinen Trost. — Je weiter sie gingen, desto mehr schwand das fremde Geschick aus ihrem Bewusstsein und die Freude an der günstigen Wendung des eigenen beflügelte ihre Schritte; der Vater wurde wieder Eisenbahner und verdiente genug, um sich selbst zu erhalten! Und Mutter Maria traute sich’s zu, mit Agis Hilfe den Lebensunterhalt für sich und die Kinder zu erwerben. — Erst als sie sich dem verlorenen Heim näherten, spielte die Mutter wieder auf den Baumeister an. „Die Engel Gottes wohnen mitten unter uns Menschen; es sind die Gütigen; sie können niemand weinen sehen, ohne zu fragen: ‚Was fehlt dir? Wie könnt’ ich dir helfen von deinem Leid?‘“ — „Ein solcher Mensch wird auch Koja werden, wirst sehen Mutter,“ — das sprach Agi aus Überzeugung; ihre eigene Güte verlegte sie in die noch kindhaft selbstische Seele des Bruders.
Und wie jeder starke Gedanke auf seine Verwirklichung