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früh zugebracht, früh die Harmonielehre beigebracht worden – der Vater komponierte, die Schwester auch, sie sang, und in den altadeligen Häusern war es üblich und beinah zwanghafte Sitte, daß man – und vor allem die Töchter – malte, schrieb, reimte, musizierte – mehr oder weniger begabt, nie überragend.

      Denn auch in die wasserverschlossenen, begrenzten und beengten Sitze sickerten Gedanken und Gefühle ein, die in der geistigen Welt schwelten, schwangen und strömten; Annette spürte das wie Luft und Wasser um sich und in sich, es forderte sie und griff nach ihr, aufgeregte und überhitzte Empfindungen, Schwärmereien, die in ihrem Alter lagen, und die sich als eine manchmal unbändige Treibhausluft auch in den Strebungen der Dichter, der Künstler, im Stil der Freundschaften bewegten – seltsames Gegeneinander von schwärmendem Vaterlandsgefühl und Fremdenhaß gegen den korsischen Eroberer, und darüber edelste religiöse Begeisterung und Versinken in einer oft nebulösen Mystik, Sehnsucht nach einer Heldenvergangenheit und zugleich nach der Unio Mystica.

      Freundschaften, glühende Briefe und Reime, gefühlsschwere Musik und solch jugendlich beschwingte und übersteigerte Luft wehten auch in die streng katholisch bestimmte Welt der Annette hinein: Es war nichts Krankes oder Abartiges, aber das Schöpferische in ihr dehnte sich glücklich bewegt, und sie verehrte, liebte demütig und manchmal kritiklos kluge Frauen, musisch regsame Männer, in denen sich aus dem Zug zur verklärten Vergangenheit gelehrtes Forschen und wissenschaftliche Akribie entwickelten.

      Sie lernte die Brüder Grimm kennen, hörte, von Sprickmann vermittelt, aus dem Göttinger Kreis die Namen Hölty, Bürger, Klopstock ehrfürchtig nennen, die ihr schon anklingend bekannt waren; sie fühlte etwas in sich selber antworten bei Höltys schwermütigen, todahnenden Gesängen, und daß Leisewitz, nachher auch Schubart, den »Räuberstoff« bewegten, führte sie immer näher Schiller zu, in Gedanken, in Rhythmen, in einem untergründigen Gefühl, das sie sicherer machte.

      Stärker als die Lyrik, als die ihrer Jungmädchenweichheit verwandten Verse, packte sie, was Sprickmann ihr an Balladen zubrachte.

      Er erklärte ihr vielerlei Theorien, die sie halb lächelnd, höflich zuhörend, annahm; aber das Eigentliche, das Dramatische, Erzählende, das mit einem treibenden Takt vorwärtsgepeitschte Geschehnis, das nicht bloß Ereignisse spiegelte, sondern magische Hintergründe durchscheinen ließ, fesselte sie und weckte alles, was an unterschwelliger Erinnerung in ihr war, an Gespür für Wesen und Erleben der Vorderen, an Ahnung und Vision und an Hang zum Unheimlichen, Bedrohenden, Tödlichen.

      Bilder standen auf, die sie, scharf umrissen und ganz leibhaftig, in sich sah und außer sich zu schauen meinte.

      O wunderliches Schlummerwachen, bist

      Der zartren Nerve Fluch du oder Segen? –

      ’s ist eine Nacht, vom Taue wach geküßt,

      Das Dunkel fühl’ ich kühl wie feinen Regen

      An meine Wangen gleiten, das Gerüst

      Des Vorhangs scheint sich schaukelnd zu bewegen,

      Und dort das Wappen an der Decke Gips

      Schwimmt sachte mit dem Schlängeln des Polyps.

      Das westfälische Erbe, das schwer zu tragende eidetische Traumsehen, wurde der »zart’ren Nerve« als Fluch bewußt – und war’s nicht nur in der schlaflosen Nacht; da lebte sie mit den verschollenen, verwehten Gestalten, die in grauen Mauern umgingen, mit den Geistern, die auch der schwäbische Kerner beschworen hatte, den sie freilich nicht kannte und zu dem, als einem Bruder im Geiste, dennoch manche Wurzel in ihr hinzog … eine Welt hinter der Welt, ans Makabre streifend, ans Pathologische fast, aber mit ihrer Kraft, ihrem Humor, ihrer geschliffenen Intelligenz im Gleichgewicht gehalten: ein junges Mädchen – ganz »aus dem Rahmen gefallen«, so andersartigfremd, daß es den Ratlosen und »Befremdeten« – im eigentlichen Wortsinn – anstößig wurde und zurückstoßend.

      »Spökenkiekerisch« – allenfalls die ungehobelten Bauern konnten das sein in ihrem heidnischen Aberglauben … und es dichterisch zu verklären, war töricht und verwerflich, da es damit beinahe salonfähig gemacht wurde.

      Sprickmann aber fand das bedeutend, er hatte Sinn für die großartige Form, auch wo sie noch unreif war, und trieb an, lobte, statt zu modeln. Er ließ die Sagenstoffe freilich nicht auf ihrer überlieferten Form beruhen, sondern schwellte und schweifte mit und um sie und taufte sie mit goldnem Flitter.

      Anton Matthias Sprickmann dichtete selber, er war unter lauter Dichtern aufgewachsen, nach seiner Pensionierung von Berlin nach Münster zurückgekommen – er war achtzigjährig und ging mühsam an einem Stock. Er hatte Jura gelehrt, aber als Annette von der Mutter an ihn verwiesen worden war, schien ihm schon selbst Leben, Dichten und Denken wie eine freundliche rosige Wolke zu verschwimmen und er traute sich nur manchmal ein scharfes Urteil, kaum noch eine Verurteilung zu. Er starb drei Jahre nach seinem Zusammentreffen mit Annette, hinterließ ihr manche freundlichen Hinweise, Anleitungen und Anregungen und eine verehrende Erinnerung, die sie kaum noch im Eigenen zu bestärken brauchte.

      Die Mama suchte weiter, war sie doch überzeugt, daß Annette irgendeine andere, literarisch zuverlässige Richtlinie brauchte, andere Hilfen und Anregungen als etwa die »regelrechte« Jenny, die sich so reibungslos in die Vorstellungen der Umgebung einfügen ließ, wo es auch darauf ankam, auf die jungen Männer Eindruck zu machen, Beziehungen anzuknüpfen …

      Nein, Frau von Droste wollte keine Liebelei anbahnen, keinen irgendwie gearteten Flirt möglich machen, da sie Annettens Andersart und Besonderheit als etwas Verpflichtendes empfand.

      Schließlich kam sie, da die Tochter sich völlig passiv in ihre Eigenwelt verkroch, auf den jungen Privatdozenten der Philosophie, Christoph Bernhard Schlüter, der seit seinem 30. Lebensjahr allmählich erblindete.

      Als Annette ihn kennenlernte, wurde von den Ärzten noch mühselig um die Erhaltung seines Augenlichts gekämpft – aber die Netzhautablösung infolge eines physikalischen Experiments in seinem achten Jahr ließ sich nicht beheben, die Sehschwäche nahm rasch zu und Schlüter warf sich, auf der Flucht vor der Verzweiflung, in eine übersteigerte mystische Frömmigkeit wie in ein heilendes Bad, ohne Kritik, ohne andere Linien auch nur zu erwägen; er war sanft und duldsam, gleichmütig gegen äußere Schläge und Bedrängnisse.

      Ihn glaubte Frau von Droste als beruhigendes Gegengewicht ihrer unruhig umgetriebenen Tochter anhängen zu müssen – als wäre einer luziden Flamme durch engere Mauern und gedämpfte Schattentöne ihre Heftigkeit zu nehmen.

      Schlüter wurde also eingeladen, allerdings nur zu einem Zweiergespräch mit der Mama, und das führte endlich dazu, daß er Annettes Verse zuvor lesen wollte – denn ohne die, sagte er, müsse er alle Einflußnahme ablehnen.

      Es kam nun, wie es beinah zu erwarten gewesen war, zu einer heimlichen Sendung an Schlüter, heimlich, das bedeutete, ohne Nachfrage bei Annette, die also keine Auswahl treffen konnte, vielleicht sogar alles verweigert hätte.

      Die Mama schickte also einiges an ihn, dem es vorgelesen wurde; aber er fand alles zu schwülstig, zu pathetisch, zu getragen und im Grunde laienhaft, und Frau von Droste, die ihre gutgemeinte Unternehmung der Tochter gestanden hatte, mußte die bittere Niederlage zugeben – eine heimliche Genugtuung verbarg sie taktvoll: Also doch nichts mit der Rechtfertigung dieses sonderlichen Gehabes, nichts mit dem Argument gegen den neugierigen Klatsch der Verwandten und Standesgenossen, keine Entschuldigung; in ähnlichen Fällen hätte man vielleicht von Krankheit gesprochen und das Absurde damit erklären können – und ähnlich wie eine Krankheit erschien ihr im Grund, wenn sie sich ehrlich selber fragte, das »Talent« des Kindes, wenn man schon so sagen wollte, das Wesensfremde, was ihre eigene Tochter da so beängstigend umtrieb.

      Annette schrieb damals einen Vers, den die Mutter – glücklicherweise – nie zu sehen bekam:

      So hab ich hundertmal gefühlt

      Und tausendmal hab ich gesehn,

      Daß nichts so hart am Herzen wühlt,

      Wo seine tiefsten Adern gehn,

      Als, zürne nicht!,

      Die

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