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spöttisch zu mir selbst, daß man meinen könnte, Reykjavik sei eine Millionenstadt geworden, wo kein Mensch die nicht zu bewältigende Aufgabe lösen kann, tatsächlich das Privatleben jedes einzelnen Menschen auszuspionieren, und jeder ist dem andern scheißegal, nur er selbst zählt, ausgenommen bei den Kommunal- und Parlamentswahlen alle vier Jahre, und in der Zwischenzeit kultivierten die Einwohner ihr Mitleid mit ständigen Spenden für die Notleidenden in der Wohlstandsgesellschaft, die die Rezession durch ein schwindendes Bruttosozialprodukt zersetzte.

      Ich hatte nicht aus eigenem Antrieb nach der neuen Reise des Körpers auf den unergründlichen Wegen der Liebe gesucht, sondern es war der Tod eines alten Freundes und Schulkameraden, der mir unerwartet Flügel verlieh. Als er seinen Lebensfaden abschnitt, übernahm ich das, was von ihm immer noch da war und was er verlassen hatte: Ich übernahm seinen Geliebten. Es war ganz, als wäre ich durch seinen Tod gestärkt worden; eine schreckliche Lebenslust ergriff mich und zügelloser Optimismus, gepaart mit Freude und Hunger nach Sättigung. So kann des einen Tod des andern Brot werden oder das Manna in der Wüste des Lebens. Der, der ins Brot beißt, bittet die Allmacht darum, es ihm täglich zu geben, doch zugleich ruft er etwas in sich selbst an und befiehlt ihm zu weichen, damit er weiter in den Fesseln der Gewohnheit am Tisch sitzen darf, wo er Tag für Tag dasselbe Mischbrot aus der Hand seiner Frau und des Bäckers ißt.

      19/11

      In der letzten Zeichenstunde malte eines von den ältesten Mädchen etwas auf ein Blatt, das sie mir und den anderen mit merkwürdigem Eifer zeigte und sagte:

      Mein Gott, ist das nicht ein Selbstporträt?

      Wenn das der Fall war, dann schien sie sich als himmelblaue Frau zu sehen. Sie bestand fast nur aus einer riesengroßen Nase, nicht unähnlich einer Tülle, die verkehrt herum an einer grotesk künstlerischen Kaffeekanne saß. Nachdem sie das Bild lange mit einer Mischung aus Eingebung und Zweifel in ihrer Miene betrachtet hatte und niemand eine Antwort gab oder eine Bemerkung machte, wie originell es sei, fragte sie naiv und mit der Affektiertheit dessen, der nichts von einem Künstler in sich hat:

      Findet ihr es nicht sonderbar und gleichzeitig zum Heulen, daß alle Bilder, die man macht, vom kreativen Aspekt her irgendwie über einen selbst sind; und was können sie anderes sein als ein Ausdruck der eigenen Persönlichkeit?

      Sie könnten zum Beispiel einfach etwas sein, das völlig absurd und furchtbar unästhetisch ist, antwortete ein anderes Mädchen kurz.

      Aber was ist das in mir, das mich zu einer einzigen Adlernase macht? fragte das erste mit derselben Eindringlichkeit und ließ sich ebensowenig beeindrucken wie ein Dummkopf.

      Ich beließ es dabei, ein paarmal zu nicken und gewichtig dreinzuschauen, und dachte: »Ja, vielleicht ist die Tülle deine starke Seite, die bei dir die Nase ist, weil du eine moderne Frau bist; sie reicht bis zum Mund, und das wird hoffentlich so bleiben, wenn du ins Leben hinausgehst, um der Gesellschaft zu begegnen.«

      Daher sagte ich, daß ich nicht verstehen könne, daß in dem Werk etwas anderes enthalten wäre als der Ausdruck ihrer Stimmung in Farben, und die Form selbst könnte ja vielleicht die starke Seite an ihrer Nase darstellen. Bei dieser Analyse streckte sie ihre Zunge heraus und wurde ganz froh und sah zweifellos eine große Zukunft in himmelblauer Elfenfrauenentfernung vor sich.

      In diesem Augenblick ist es nicht unwahrscheinlich, daß auch ich gerade ein Bild von mir mit Worten male und daß die starke Seite der Nase der Wörter aus einem ähnlichen Material ist wie das, was vielleicht in der Stimmung der Wunderwelt des Mädchens war. Diese einfältige und lehrerhafte Mutmaßung verwirrt mich ein bißchen, doch ich habe meine sarkastischen Gedanken weder im Griff, noch kann ich sie zügeln. Nach meinem Verhalten in der letzten Zeit zu urteilen, habe ich offensichtlich keine so starke Seite an der Nase, wie man sie braucht, um sie mit dem Mund verbinden zu können, wie wenn Worte und Wut bei einem ganzen Menschen Zusammengehen. Wenn meine Frau recht hat, dann ist es keinem außer den modernen Frauen gegeben, wahre Worte und Wut miteinander zu verbinden und die starke Seite der Nase alles bestimmen zu lassen, was wir uns vornehmen.

      21/11

      Heute, nachdem wir miteinander geschlafen hatten, legte ich mich auf ihn und roch den Duft von dem, was wir getan hatten. Hinterher hatte er die Arme ausgestreckt, wie er es häufig macht, und man könnte meinen, auf diese Weise empfinge er staunend und befriedigt den Himmel. Ich legte beide Arme auf die seinen, und wir spreizten die aufeinandergelegten Handflächen; wir sind etwa gleich groß, und unser Körperbau ist nicht unähnlich, so daß wir im wörtlichen Sinne zusammenpassen. Als ich mein Gesicht langsam in seinem Hals vergrub, spürte ich die Wärme und den Duft des Wohlgefühls, der beim Lieben entsteht, der liebliche Wohlgeruch der Liebe selbst. Sein Fleisch war überall, sowohl konkret als abstrakt. So lagen wir lange, wie Wesen, die bereitwillig und aus freien Stücken aufeinandergenagelt worden waren, um an einem gemeinsamen Kreuz sterben zu können. Ich lag wie im Traum da und nahm wahr, wie unsere Körper langsam zusammenflossen, so wie ein Regenwurm langsam in die feuchte Erde kriecht, ich spürte, wie Fleisch in anderes Fleisch hineinwuchs, und wir klebten zusammen durch den einen Leim, der alles leimen kann und nun außerhalb unserer Körper war, der zuvor jedoch innerhalb gewesen war. In dieser Stellung zeigt sich in gewisser Weise jenes Gefühl und Verlangen, daß wir ineinander sterben wollten.

      Dann dachte ich auf einmal:

      Nein, das ist nur Wunschdenken.

      Auf diese Weise aufeinander gekreuzigt, schlummerten wir, oder vielleicht habe ich das nur geträumt. Ich glaube, daß die Träume der Menschen eine Erkundung der Leere der Tiefe sein müssen, daß der Traum auf Umwegen durch das Labyrinth der einen Gewißheit gehen muß, welche das vergängliche Dasein des Körpers ist. Nur er existiert mit Sicherheit, solange wir unser Leben fristen, und in diesem Moment habe ich kein anderes Bekenntnis als dieses:

      Falls mich irgend jemand mit schönen Worten aufforderte, vom Kreuz herabzusteigen und wieder in die Gesellschaft anderer Menschen einzutreten, damit niemals ein Speer in mein gepeinigtes Fleisch und in meinen Unterleib gesteckt wird und kein Blut oder Wasser dort herausrinnt zum Zeichen der inneren Flut, und mir wäre das Himmelreich verheißen mit unzähligen Wohnstätten, Sicherheit bei meinem Vater und immerwährende Mahlzeiten in seinem Haus, und ich dürfte in alle Ewigkeit unter dem liebevollen Schutzmantel meiner Mutter wohnen und auf diese Weise im Schoße der heiligen Familie enden, so würde ich eher wählen, gekreuzigt an meinem Freund zu hängen, auch wenn die Welt das für eine Todsünde hielte und mich steinigte und verstieße, weil ich lieber in seinen Staub hineinsterben wollte, als das Leben in Versöhnung mit dem zu leben, was ich vor ungefähr fünfzehn Jahren heiratete und womit ich das erste Kind vor fünfundzwanzig Jahren hatte, als etwa Zwanzigjähriger.

      1/12

      Heute behauptete er, daß er nie etwas vor seiner Frau verheimliche, außer das mit uns. Das sagte er mir am Telefon, als er allein zu Hause mit Grippe dalag und mir mitteilte, daß er nicht kommen könne.

      Außerdem habe ich Herpes, sagte er zu seiner Entschuldigung.

      Als er sagte, daß er nicht kommen könne, und ich ihm verraten hatte, daß ich mich danach sehnte, krank bei ihm zu liegen, spürte ich zu meiner nicht geringen Verwunderung, daß es mir in verschiedener Hinsicht besser gefiel, mit ihm in Gedanken zusammen zu sein als in Wirklichkeit. Zu begehren ist oft besser als das andere – zu bekommen.

      Es verschafft einem Befriedigung und Wohlbefinden, allein zu sein und auf den zu warten, den man liebt, aber von dem man weiß, daß er nicht kommt. Als ich darüber nachdachte, kam ich zu dem Ergebnis, daß das daher kommt, daß der, der abwesend ist, in Wirklichkeit stets nach unserem Willen bei uns ist, doch mit seiner Anwesenheit stößt er sich an dem meisten in unserem Verhalten, und am Ende verscheucht er sich ein für alle Mal selbst durch seine ständige Nähe.

      Und was ist dann das, was kam?

      Wenn jemand an einem bestimmten Mann oder einer Frau festklebt, dringt so wenig Phantasie in sein tägliches Leben, daß das, was vorher besonders und begehrenswert war, alltäglich wird, die Nähe vertreibt die Sehnsucht, und bei uns sitzt jemand, der nur in seiner egoistischen Gestalt

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