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Tanz- und Liebesstunde. Pavel Kohout
Читать онлайн.Название Tanz- und Liebesstunde
Год выпуска 0
isbn 9788711461440
Автор произведения Pavel Kohout
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
«Jedes Tier paart sich nur mit einem Genossen der gleichen Art. Meise geht zu Meise, Fink zu Fink, der Storch zur Störchin, Feldmaus zu Feldmaus, Hausmaus zu Hausmaus, der Wolf zur Wölfin ... Es wird nie ein Fuchs zu finden sein, der seiner inneren Gesinnung nach etwa humane Anwandlungen Gänsen gegenüber haben könnte, wie es ebenso auch keine Katze gibt mit freundlicher Zuneigung zu Mäusen.» Und weiter: «Bei jeder Blutsvermengung des Ariers mit niedrigeren Völkern kam als Ergebnis das Ende des Kulturträgers heraus!»
Karl Kleinburger war völlig einverstanden mit der Zügelung einer Rasse, die die Wirtschaftskrise und bereits zwei Weltkriege auf dem Gewissen hatte. Er war jedoch zutiefst überzeugt, daß die gerechte deutsche Sache von keinerlei Unrecht befleckt sein dürfe. Und Kolatschek kümmerte sich einen Dreck darum.
Gertrud unterbrach ihn in seinen Gedanken.
«Karli, wir sind schon über zwanzig Jahre zusammen, und ich erinnere mich nicht, dir irgendwann Schwierigkeiten gemacht zu haben. Deine Grundsätze hab’ ich immer respektiert, auch dann, wenn ich sie nicht verstanden habe. Ich weiß nicht, was du mit diesem Kolatschek hast, aber überlege bitte, was dagegen spricht, Christine nicht diese kleine Freude zu machen für all die großen, die sie uns schon gemacht hat. Ihre erstaunliche Gelenkigkeit und Ausdauer hat sie wieder von dir. Wenn sie sich aufs Tanzen konzentrieren kann, wird sie auf keine dummen Gedanken kommen. Schatz, in einer Woche haben wir doch beide Geburtstag. Schenk mir sie und ihr die Tanzstunden ...!»
Bevor er noch antworten konnte, hörten sie, wie zuerst fern in Leideneritz und im Ghetto und kurz darauf auf dem Turm über dem Festungstor die Sirenen ertönten, jenes wild heulende Glissando des Alarms. Der Kommandant hatte sich im Verborgenen bereits seine Prothesen angeschnallt. Dann schaltete er das Licht aus, schob die dichte Gardine beiseite und öffnete das Fenster.
Die dunklen Mauern der Festung verschmolzen mit dem sternenlosen Himmel. Die Sirenen verstummten. Die Erregung der Hunde wurde durch das ferne Bellen der Flak gesteigert. Und als setzten die Kontrabässe eines großen Orchesters ein, nahm das dumpfe Geräusch einer gewaltigen Luftarmada zu, bis es alles andere übertönte. Kleinburger mußte sehr laut sprechen.
«Gut, Trudl. Den Stein der Weisen hab’ ich nicht gefunden. Versuchen wir’s.»
Nun liegt er wieder neben ihr, ihr Karli. Die heutige Nacht ist ruhig, eine Nacht der Grillen und des betörenden Dufts von welkendem Gras, im Lichte der starken Scheinwerfer glitzern wieder die Blätter der Linden, als sei der Wasserspiegel bis zu den Fenstern angeschwollen. Der Krieg ist weit, und vor dem Wüten einheimischer Feinde schützen sie mächtige Festungswälle. Unter dem Dach des Herrenhauses schläft ihre Tochter, ein Kind der Liebe, die nicht einmal zwanzig Jahre, eins schwerer als das andere, abzustumpfen vermochte.
Gertrud sieht sich im Alter ihrer Tochter, sieht sich wieder in Mutters Dirndl, wie sie die Last der Maßkrüge zum Tisch trägt, wo sie der freudige Lärm fröhlicher Burschen empfängt – ihren Dienst als Störtrupps der roten Maiumzüge hatten sie gerade hinter sich –, und einer, der einzige ohne die Hakenkreuzarmbinde, dafür in zugeknöpfter Jacke und mit gestärktem Hemdkragen, als sei er aus der Kirche gekommen, läßt immer, wenn sie mit den schweren Krügen kommt, kein Auge von ihr, sagt als einziger kein Wort, und als sie sich wieder einmal ihrer Last entledigt hat, die erste, zweite, dritte, vierte, fünfte, sechste Maß, ach Gott, sieben sind’s ja, und gerade er hat keines abgekriegt! ärgert er sich trotzdem nicht, und als die Runde ihn auslacht, daß sie ihm als einzigem nichts gegeben hatte, erhebt er sich in seiner ganzen Größe und sagt mit angenehmem Bariton zu ihr – Falls Sie nichts dagegen haben, mein Fräulein, würde ich anstelle der Maß Sie nehmen! – huronisches Gelächter bricht aus, das abreißt, als ihnen aufgeht, daß gerade er bisher nie gescherzt hatte, und tatsächlich: Er meinte, was er sagte, und ihr fiel es nicht leicht, den Worten, die beim Bier in einer Gartenwirtschaft voller Krach und Gejohle gesagt wurden, zu glauben, doch sie war sofort entschlossen, es zu tun, was wiederum ihn überraschte, und beide hatten zwanzig Jahre ihr Wort gehalten, und kein Strudel der Zeit war stärker als diese beiden Worte, und jetzt in diesem Land und dieser Festung, die ihr ewig fremd bleiben werden, erkennt sie wieder die Tiefe ihrer Sicherheit. Er ist es! Fort die Hand, die sie beim Einschlafen hielt, weg das Bein, auf das sie ihres zu legen pflegte, er aber ist immer hier, und sie gehört ihm, und er begehrt sie, dreht sich wie immer zärtlich zu ihr um, jetzt fast körperlos, stützt sich wie gewohnt auf den Ellenbogen, der ihm geblieben ist, und umfängt sie mit der einzigen Hand und entblößt sie und öffnet sie mit dem ihm verbliebenen Knie ... Ach, Karli, ach, du mein Glück!
III
Dienstag, 6. 6. 1944, frühmorgens
Er öffnet die Tür des Herrenhauses und ist wieder in der Landschaft seiner Kindheit. So sehr erinnert ihn hier alles an die Schule in Ingolstadt, wo sein Vater in einem der Objekte der ehemaligen Festung eine Dienstwohnung hatte. Um Karl Kleinburgers Seele kämpften, so war er sich später sicher, bereits von der Wiege an Muse und Mars.
Der Vater, ein Schulmeister, der Nietzsche verehrte und für die örtliche Zeitung nationale Gedichte verfaßte, erzog seinen einzigen Sohn im selben Geist; er schrieb ihm wundersame Fähigkeiten zu, da sein Stammhalter genau in der ersten Minute des ersten Tages eines neuen Jahrhunderts das Licht der Welt erblickt hatte. Karl junior begann, seine Hoffnungen zu erfüllen, als er mit nur sechzehn bei einem Schülerwettbewerb den ersten Preis für das beste patriotische Poem gewann.
Als der Sohn ein Jahr später zu den Waffen gerufen wurde, meldete sich trotz verzweifelter Bitten seiner Frau auch der Vater als Freiwilliger, und weil er dies mit einer öffentlichen Erklärung tat, um die jüngeren, noch nicht dienstpflichtigen Jahrgänge an seiner Schule für die große Sache zu begeistern, entschied die Behörde, seinem Gesuch stattzugeben. Während der Sohn eine ordentliche Grundausbildung hinter sich brachte, wurden die freiwilligen älteren Reservisten aus dem Zug heraus in den wieder ausgebrochenen Vulkan von Verdun geworfen. Eine Ironie des Schicksals ließ den Vater bei seinem ersten Einsatz fallen, wonach Karl der Jüngere, als einziger Versorger der plötzlich schwer erkrankten Mutter und eines sechsjährigen Bruders, nach dem geltenden Gesetz vorerst vom Dienst freigestellt wurde.
Trotzdem mußten sie die Wohnung schleunigst für den neuen Schuldirektor freimachen, und in einem zerfallenden Staat kümmerte sich um das Schicksal einer von Millionen Witwen niemand. Sie und den jüngeren Sohn raffte barmherzig die Spanische Grippe dahin. Der von Amts wegen weitergeführte Ernährer mit Kriegsabitur schuftete bei Krauss-Maffei im Lokomotivwerk und war kurz vor dem Ende seiner Kräfte, als sich endlich Vaters Münchener Verwandte seiner annahmen. Karl fing in einer Druckerei an, wo der Onkel als Setzer arbeitete, und bestätigte zunächst die Vorgabe der Musen, als er sich bald zum Metteur hinaufarbeitete; allerdings war ihm Mars entschieden behilflich gewesen, der inzwischen an der Front seine Vorgänger verschlungen hatte.
In den Nachkriegswirren hatten sich seine wichtigsten Charaktereigenschaften voll bewährt: Zähigkeit und Besonnenheit. Er widerstand auch den verlockendsten Versprechungen und blieb in der Branche, die von allen Politikern umworben war, weil sie die Schwarze Kunst richtig als einzigartiges Tor zu den Massen verstanden, einer der wenigen weißen Raben, die sich ihre Unabhängigkeit bewahrten und sich nur ihrem Handwerk widmeten. Für den Betrieb war er ein wahrer Schatz und wurde bald Faktor, da er sich auch mit Hitzköpfen Rat wußte. Eine Karriere stand ihm bevor. Er hörte auf, Verse zu drechseln und zu publizieren, als er gerade über seiner Arbeit, beim Setzen von Versen, begriff, daß er mit einem wirklichen Dichter nicht konkurrieren konnte. Doch die Gedanken und Gefühle, vom Vater ererbt und mit dessen Blut besiegelt, wollte er sich für eine Sache aufsparen, die ihrer würdig wäre.
Die erweckte ein einfacher Frontsoldat in ihm, der in überfüllten Sälen, inmitten des Geschwafels selbsternannter Demokraten Worte zu finden verstand, die dem Chaos Ordnung gaben. Am Marsch zur Feldherrnhalle im November 1923 beteiligte sich Karl nicht – er mußte die Schicht eines erkrankten Kollegen anführen –, stellte sich aber unmittelbar nach