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regelmäßigen tiefen Atem. Sie hatte vergessen zu beten, obzwar er nichts von ihr verlangte als ihr Kindergebet, daß sie es spreche. Sie wußte nichts von dem, neben dem sie schlief. Sie wußte nicht, daß er Nacht für Nacht dalag, die Fäuste geballt, daß die Nägel in das Fleisch drangen, die Zähne krampfhaft aneinander gepreßt. Er suchte den Weg zu Gott, von ihm Aufschub, Milderung dessen zu verlangen, was er verwirkt hatte. Gott stand da, wie der Lehrer in der Schule. Er zeichnete ein, welchen Weg man gewählt hatte, und er richtete mit Strenge. Man hatte gedacht zu segnen und es waren Flüche vor ihm, man hatte gewähnt, das Leben zu wählen, und es war der Tod vor dem Richter. Es gab keinen körperlichen Weg dahin. Er war unsichtbar, der urteilte, aber man mußte vor ihn gelangen, ihn um Gnade zu bestürmen. Es mußte durch die Gewalt des Gedankens geschehen, durch härteste Spannung, durch übermenschliche Konzentration. Man mußte wühlen im Vorrat des Gehirns, Anrufungen Gottes zu erfinden, zum erstenmal seit Anbeginn erfundene, unabweisliche Anrufungen. Man mußte den Körper überwinden. Es war gut, ihn durch schmerzhafte Lagen zu unterdrücken, ihn krampfhaft zu spannen, zu schmerzvoller Unbeweglichkeit zu zwingen, den Gedanken hart zu machen wie ein stählernes Geschoß.

      Er tastete im Dunkeln nach Selma.

      »Hast du gebetet?« fragte er.

      Sie fuhr aus dem Schlaf.

      »Ich habe daran gedacht«, sagte sie, »ich bin darüber eingeschlafen.«

      »Bete!« sagte er.

      »Betest du auch?« fragte sie.

      Wenn er es ihr sagte, würde sie nicht lachen, daß er sich fürchte wie ein Kind? Er war ein Mann, er fürchtete nichts, nicht Gott, nicht die Knaben, niemanden. Wenn er wollte, konnte er nicht die Matrosenbeine an die Stühle binden und die Zucht verewigen?

      »Dein Gebet ist gut«, sagte er. »Gott würde über mich lachen!« Und er lachte selbst laut und flackernd wie ein Irrer.

      »O Gott«, sagte Selma, »wie du lachst! Man fürchtet sich, wenn man dich hört.«

      Sie hält mich für verrückt, dachte er. Warum habe ich Gott herausgefordert? Ich habe mich in den Abgrund gestürzt. Warum habe ich mich geschämt, ihr alles zu sagen?

      Josef Blau schlief noch nicht, als das Fensterkreuz im matten Schein mit dem Fenster verschwamm. Er sah die Umrisse des Gebäudes, das auf der anderen Seite des Hofes lag, sich scharf gegen den grauen Himmel abzeichnen. Er hörte die ersten Geräusche des erwachenden Hauses. Die Mauern waren dünn. Ein Schritt kam die Treppe herauf, eine Tür wurde geöffnet. Es war der Oberkellner, der im zweiten Stock wohnte. Fuhrwerke fuhren durch die Straße der Stadt zu. Jemand hustete keuchend, als sollte er ersticken. Es war der alte Hämisch, der immer vor der Tür saß, wenn Josef Blau aus der Schule kam. Ein Leitungshahn wurde aufgedreht. Das Wasser rauschte, es war, als rauschten die Wände des Zimmers. Josef Blau schien es, als nähme das Rauschen kein Ende. Vielleicht hat ein anderer Hahn den ersten abgelöst, dachte er. Hähne sind die ersten, die erwachen. Er wollte zählen, wie lange es rauschen würde, aber er hielt ein, denn er sah sich umringt von den Knaben, die die Matrosenanzüge trugen. Die Knaben umringten ihn von allen Seiten. Sie lachten. Er stand vor seinem Platz in der Bank, seine Mitschüler aber hatten ihre Plätze verlassen. Er hoffte, daß der Lehrer bald kommen würde, dann würden sie weichen und sich gleich ihm auf ihre Plätze setzen. Sie lachten und sahen ihn an. Er selbst sah an sich herunter und erblickte erschrocken, daß er keinen Matrosenanzug trug wie die anderen Knaben, sondern eine beschämende Weste und lange Hosen und eine dicke vergoldete Kette um den Bauch, die ihm der Vater geschenkt hatte. Er war der einzige Knabe in der Klasse, der eine Weste trug. Er wollte fliehen, sich verbergen. Aber er konnte nicht. Denn der Richter war eingetreten und nun stand Josef Blau vor dem Gericht. Das Zimmer war wie zu Hause das Zimmer des Bezirksgerichts, an dem sein Vater Diener gewesen war. Hinter dem langen Tisch mit dem Kruzifix stand Gott. O, Josef Blau erkannte ihn klar und deutlich. Er hatte den Zeigefinger erhoben, es war, als drohte er ihm. Josef Blau sagte sich eindringlich, daß er wisse, wer dieser war mit dem erhobenen Zeigefinger, daß dieser Gott nicht sein konnte mit dem zerkauten nassen Zigarrenstummel zwischen den gelben Zähnen. Daß er der Bezirksrichter Wünsche war vom Bezirksgericht, den er nicht mehr zu fürchten brauchte, denn er war nicht mehr der Sohn des Gerichtsdieners, den der Bezirksrichter um sein Brot bringen konnte, und was war ein Bezirksrichter hier, wo es Statthaltereiräte gab, Oberlandesgerichtsräte, Präsidenten, den Statthalter! Es war sein, des Bezirksrichters hageres bartloses Gesicht mit den tiefen Falten in den Wangen, die wie aus Wachs waren, den hellen, kaum sichtbaren Brauen über den farblosen Augen, die unbeweglich an einer Stelle hafteten, als seien sie nicht für sich beweglich sondern bloß mit dem ganzen Kopf, der langen Nase, dem aschblonden, kurzgeschorenen, aufwärts gebürsteten Haar. Es war der Bezirksrichter Wünsche, aber doch nicht der Bezirksrichter, er war weit mächtiger als dieser. Nun stand Josef Blau vor dem Tisch. Neben ihm standen die Knaben. Er erkannte den blonden Schüler Laub neben sich. Alle legten die Hände auf den Tisch. Der Schüler Laub die weißen mit den schmalen Nägeln, an denen man die bleichen Halbmonde sah, Josef Blau seine Hände, die aussahen wie Plattfüße, rot wie nach einem Schwitzbad, entstellt an den Fingern von Frostbeulen und Hühneraugen. Karpel und Selma standen an der anderen Seite des Tisches. Karpel wies auf die Hände, die unbeweglich auf dem Tisch lagen, Selma sah sie an und lachte und wandte sich von Josef Blaus Händen ab und den Händen der Knaben zu. Im Saal war ein Rauschen wie von Flügeln, ein Flattern von Tauben, aber es waren die Knaben, die die Hände schwenkten. Niemand blieb bei Josef Blau als Modlizki, Modlizki nahm Josef Blaus Hände vom Tisch und verbarg sie in Josef Blaus Taschen. Sie verließen das Gericht und Modlizki lachte, als sei ihm eine große Freude widerfahren. Sie kamen an einen Bretterzaun, es war der Zaun des gräflichen Gartens zu Hause. Auf jedes Brett waren mit Kreide schamlose Figuren gezeichnet. Selma stand mit Karpel vor dem Zaun und sah die Figuren an. Sie näherten sich jeder auf wenige Schritte und traten wieder zurück, wie man tut, wenn man wohlgefällig ein Bild betrachtet. Josef Blau wollte hineilen. Doch Modlizki hielt ihn. Er lachte noch immer. Etwas schien ihn zu freuen. Josef Blau fragte ihn nicht, er wollte gar nichts wissen.

      Drittes Kapitel

      Die Schüler hatten sich Josef Blaus Anordnung, die ihre Körper in Unbeweglichkeit festhielt, widerspruchslos gefügt. Aber nun drohte eine neue Gefahr. Für einen der nächsten Tage stand der Schulausflug bevor. Die Schüler begriffen gewiß wie der Lehrer die Besonderheit dieses Tages, der im Gang des Schuljahres wie kein anderer aus der Ordnung der Dinge fiel. Der Aufenthalt in einer allen, dem Lehrer wie den Schülern gleich ungewohnten Umgebung, die besondere Wirkung der sinnlichen Natur, die Bewegung und Erhitzung des Marsches, die Freiheit einer ständig wechselnden Ordnung, die erregende Vielfalt der Eindrücke des Gesichts und die Verlassenheit und Einsamkeit des Lehrers inmitten der Schüler zwischen Feldern, Wald und Himmel, seine Armut und Nichtigkeit in diesem Zusammenhang, die die Knaben fühlen mußten, machten die Gefahren an diesem Tage drohender, vielfältiger, unausweichlicher als an jedem andern Tag. Die Möglichkeiten dieses Tages waren unberechenbar. Es gab keinen Plan für die Stunden dieses Tages, keine Ordnung, die dem Lehrer seine bestimmte Stellung und seinen Platz anwies wie in der Schule. Die Schüler würden singen, sich zerstreuen, ihn umringen, Fragen stellen, in Gasthöfen einkehren, um zu trinken, die Zucht würde gelöst sein vom ersten Schritt an am Morgen; die Zucht der Schule war untauglich für diesen Tag und Josef Blau kannte keine andere für solche Umstände geeignete. Vielleicht hatten sie Spottlieder bereit, sie auf dem Marsch oder im Gasthof zu singen, Spottlieder gegen ihn und Selma, vielleicht lockte ihre für diesen Tag befreite Kraft die Schüler unwiderstehlich, sich an Josef Blau zu vergreifen. Sie mußten nur ihn zerren, Trunkenheit vorschützend ihn an den Ärmeln zupfen, sie mußten nur ihn unterfassen und in scheinbarem Scherz zum Laufen zwingen, gar nicht ihn mit Schlägen überfallen, gar nicht die Kleider von seiner Brust reißen, ihn zu vernichten, seine Begegnung mit ihnen für die Zukunft unmöglich zu machen.

      Er mußte die Gefahr kennen, wenn er ihr begegnen sollte. Wenn die Knaben Pläne hatten, mußte er versuchen, in diese Pläne einzudringen. Dann konnte er vielleicht durch Wort und Haltung der Ausführung zuvorkommen, durch seine Kenntnis abschrecken und verwirren. Modlizki kannte den Schüler Karpel. Es gab keine Wahl, als Modlizki aufzusuchen, heute noch. Vielleicht genoß Modlizki Karpels Vertrauen.

      Josef Blau

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