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mit dem beschämenden Anblick, der sich ihm oben geboten hatte, auch der Erinnerung entfliehen. Er wollte den Raum vergrößern, der zwischen ihm und diesem Zimmer lag. Wie Lot auf der Flucht wagte er nicht, sich umzuwenden und hinter sich zu sehen, als verfolgte ihn der fette Bobek, mit dem Spitzenhemd bekleidet, und als könne dieser Anblick ihn, den Lehrer, zu einer Salzsäule erstarren lassen.

      Josef Blau durchquerte die Stadt. Die Hauptstraßen waren voll von Menschen, die ihn anstießen und drängten. Sie stauten sich vor den Auslagen der Geschäfte, in deren großen Glasscheiben sich die Sonne spiegelte. Er bog in eine Seitenstraße ein. Hier glitzerte kein Glas in der Sonne. Die Straße war wie ein enger schattiger Schacht, eingelassen zwischen den Wällen der hohen Häuser. Niemand stieß ihn an. Hier war kein Gewühl von Menschen. Kaum ein Handwerker, ein Weib mit einer Last, ein aus dem Bureau heimkehrender Beamter kam ihm entgegen.

      Er ging weiter ohne Ziel. Er verließ den Umkreis der inneren Stadt und betrat die Wege einer hügeligen baumbepflanzten Anlage. Der Lehrer wich einer Lichtung aus, von der aus die Stimmen spielender Kinder an sein Ohr drangen, begegnete halbwüchsigen Burschen, die Schulmappen tragende Mädchen untergefaßt führten, und Kinderfrauen in bunter ländlicher Tracht mit weitgestärkten weißen Röcken. Josef Blau war müde vom schnellen Gehen und sein Kopf schmerzte. Er wollte sich auf eine Bank setzen, aber auf allen Bänken ringsum saßen Mütter oder Kinderfrauen mit lauten lärmenden Kindern. Er wollte sitzen, den Hut abnehmen, vor sich hinsehen in das braune Laub des Herbstes, in dem Schwärme von Vögeln Nahrung suchten, und in das helle Grün der jungen Blätter an den Zweigen, in das die Vögel aufflatterten, wenn sein Schritt sie verscheuchte.

      Auf einer Bank in der Sonne saß ein weißhaariger Mann mit goldgefaßter Brille. Sein Hut lag neben ihm auf der Bank, die Hände stützten sich auf die Krücke seines aufrecht gestellten Stockes. Als Josef Blau herantrat, sah der alte Mann auf. Josef Blau blickte in ein breites ruhiges Gesicht mit kurzsichtigen Augen, die ihm gelassen entgegensahen. Josef Blau wollte sich zu diesem alten Mann setzen. Er wollte den Hut ziehen und grüßen. Er wollte hier bleiben, bis es dunkelte.

      Hinter der Biegung des Weges wurden Stimmen laut und aus den Büschen, die den Blick versperrten, trat ein Trupp von Schülern mit Büchern unter dem Arm. Josef Blau hörte ihr lautes Gespräch und ihr ungebundenes Lachen. Es konnten Knaben aus seiner Klasse sein. Die Entfernung war zu groß, als daß der Lehrer es hätte erkennen können. Wenn er sich auf die Bank setzte, würden sie an ihm vorbeiziehen. Vielleicht rauchten sie, das Verbot nicht achtend. Josef Blau wollte nicht diese Begegnung, heute nicht und nicht vor dem lächelnden alten Herrn. Sein Kopf war wirr von allem, was heute darin war: der Wechsel, Bobek im Spitzenhemdchen der Mutter und der bedrohliche Ausflug. Josef Blau hatte den Ausflug nicht vergessen. Nun stand die Gefahr, der er begegnen sollte, wieder groß und gegenwärtig vor ihm. Er mußte zu Modlizki. Es ging nicht, es aufzuschieben, es mußte heute sein und jetzt, solange Modlizki zu sprechen war, daß Josef Blau ihm ins Gesicht sah, und ihn nach der Absicht der Schüler fragte.

      Er bog in einen Seitenweg ab, der vor einem hohen Bretterzaun endete. An den Holzplanken dieses Zaunes entlang führte ein schmaler Fußweg. Josef Blau hielt den Blick vom Zaun abgewendet. Er wußte, daß in die Planken Herzen und Namen geschnitten, unzüchtige Bilder und Verse mit Graphit und Kreide an das Holz geschrieben waren. Der Fußweg mündete in eine breite Straße. Josef Blau betrat sie wenige Schritte von dem Haus entfernt, das er aufsuchen wollte. Er sah die Gittertür mit der in den Stein eingelassenen Klingel, die Bäume, die das tief im Park liegende Haus verdeckten, und die weiße nackte Göttin mit lässig erhobenem, über dem Kopf geneigtem Arm, die aus dem grünen Boskett hinter der Gittertür wuchs. Einige Häuser weiter gegen die Stadt zu wohnte der Schüler Karpel. Die Straße war leer, es drang kein Laut aus den Häusern und aus den Gärten. Nur da und dort bellte ein Hund auf, um gleich wieder zu verstummen. Es war vier Uhr. Die Herren schliefen, die Diener schlichen lautlos über die Treppen und Gänge und über den gepflegten Kies der Gartenwege.

      Wenn Josef Blau auf die Klingel drückte, würde die Gittertür surrend aufspringen. Er würde an der lässigen Göttin vorbei um das Boskett schreiten und dann das einfache schloßartige Gebäude mit den grünen Fensterläden und dem runden Toreingang erblicken, zu dem eine breite Steintreppe anstieg. Im Torbogen würde Modlizki stehen, unbeweglich, beunruhigend wie immer, und sich verneigen vor Josef Blau, als sei er, Modlizki, nicht der Einzige in der Stadt, der ihn von damals kannte, als Blau die langärmeligen abgelegten Röcke, Westen und langen Hosen wohltätiger Mitbürger trug. War seine Ehrfurcht Hohn? Würde sie sich nicht plötzlich in überrumpelndes, Gestalt, Antlitz und Stimme entfesselndes Gelächter verwandeln? Josef Blau drückte auf die Klingel. Die Gittertür sprang auf. Als er rund um das Boskett geschritten war, erblickte er Modlizki. Modlizki stand in der Tür, schwarz, mit hochgeschlossener Weste, die sorgfältig geknüpfte weiche Masche wie stets unter dem Kinn. Josef Blau sollte fliehen. Onkel Bobek hatte recht: »Er hat einen bösen Blick«, hatte Onkel Bobek gesagt. »Wenn ich ein Kind hätte, würde ich es vor ihm verbergen.« Aber was wußte Onkel Bobek von ihm? Wer wußte von ihm? Was wußten die Knaben von ihm, an die er sich planvoll herangemacht, hatte, Josef Blau zu vernichten? Modlizki haßte die Ordnung, die als gut und gerecht galt, die Knaben, denen er gefällig war, den Herrn, dem er diente, aber ihn, Josef Blau, sein Weib, sein Kind und alles, was mit Josef Blau zusammenhing, mit einem besonderen Haß. Modlizki wollte vernichten. Daß Modlizki beschränkt war und ohne Bildung und von wirren Ideen besessen, beruhigte nicht. Denn es war doch eine Ordnung in allem, was Modlizki sagte, eine verwirrende beängstigende Ordnung, es klang alles, als sei es nicht ohne Vernunft, es nahm gefangen, man konnte sich nicht entziehen, man kehrte wieder, Modlizkis Haß zu ergründen, zu besänftigen, zu mildern. Vielleicht lag es an Modlizki und nicht an dem, was er sagte, daß man nichts fand, es entgegenzusetzen, an seinem Blick und seinem unbewegten Gesicht und seiner Haltung und seiner tiefen gleichbleibenden Stimme, die von allem sprach, nur davon nicht, wovon Josef Blau sprechen wollte, jeder Erinnerung daran auswich. Aber einmal mußte es kommen, daß Josef Blau davon beginnen konnte und ergründete, warum er ihn von allen am tiefsten haßte, vielleicht weil Josef Blau der Genosse seiner Jugend, Armut und Niedrigkeit gewesen und zu Achtung und Stellung aufgestiegen war. Doch Modlizki wußte, daß die, denen Josef Blau vorgesetzt war, ihn nicht achteten. Vielleicht war es doch das andere, die Beleidigung, die Modlizki nicht vergessen hatte von damals, er dachte daran, wenn er mit Josef Blau sprach, seit damals haßte ihn Modlizki, damals hatte es begonnen! Sie waren Kinder und aßen in wohlhabenden Häusern, täglich in einem anderen Haus, jeder für sich an ungedeckten Küchentischen. Aber einmal in der Woche, es war am Donnerstag, Josef Blau erinnerte sich genau, trafen sie in einem Hause zusammen, beim Kaufmann Wismuth, sie aßen in der Küche und standen auf und gingen, nachdem sie der alten Magd gedankt hatten, die Genoveva hieß, ein seltener Name, aber in dieser Gegend nicht so selten, daß man sich ihn hätte merken müssen. Josef Blau bekam das Stipendium und wurde in das Gymnasium aufgenommen und am Donnerstag darauf holte das Fräulein ihn aus der Küche, wo er mit Modlizki saß, an den gedeckten Tisch ins Zimmer und Modlizki ließen sie draußen. Sein Vater war ein Trunkenbold gewesen, die Mutter wusch in den Häusern. Josef Blau sagte nichts und gehorchte. Er begriff nicht anders, als daß er gehorchen mußte, als die Tochter ihn holte. An der Tür zögerte die Tochter und wandte sich nach Modlizki um und Josef Blaus Blick folgte ihrem Blick. Da sah Josef Blau Modlizkis Augen: sie waren so voll Haß, daß Josef Blau der Atem stockte. Doch schon hatte Modlizki den Kopf wieder in gehorsamer Ehrfurcht geneigt. Das Fräulein zögerte noch, aber vielleicht wagte sie nichts ohne Auftrag des Vaters oder vielleicht hatte auch sie Modlizkis Blick gesehen. Sie wandte sich und ging. Josef Blau folgte ihr. Er schloß die Tür hinter sich zur Küche und zu Modlizki. Das war es, das hatte Modlizki nicht vergessen, daß Josef Blau an diesem Tage aufgestiegen war an den gedeckten Tisch im Zimmer und den Gespielen und Genossen vergessen und beleidigt hatte, Modlizki dachte daran und er rächte sich und ließ Josef Blau nicht sprechen und erklären und wich der Gelegenheit aus. Er ließ Josef Blau immer wieder kommen, denn er kam vielleicht nicht nur Modlizkis Pläne zu erraten, auch das trieb ihn vielleicht, es Modlizki zu erklären und Modlizki zu versöhnen, aber Modlizki wollte keine Versöhnung, er wollte nicht aufhören zu hassen.

      Modlizki schritt Josef Blau entgegen, ohne Eile wie immer, den Kopf mit den schwarzen, in der Mitte gescheitelten Haaren leicht nach links geneigt. Seine großen schwarzen Augen ruhten ernst und unbeweglich auf Josef

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