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war dem Persönlichen, Relativen für immer gewichen. Er mußte unerbittlich sein, wenn die Knaben bisweilen versuchten, ihn in ein privates Gespräch wie den Fisch in den Maschen eines Netzes zu verwickeln. Wenn sie auf ihn zutraten, in der Pause zwischen den Unterrichtsstunden, während er auf dem langen Korridor in eine Ecke gelehnt stand, wies er sie mit barschen Worten ab. Die Arbeiten der Jugendfreunde über das Verhältnis von Schüler und Lehrer waren ihm nicht fremd. Aber es gab keine Wahl. In den Knaben war die Überhebung der Satten, die Sicherheit der Gutgekleideten, ihr Gelächter hätte ihn vernichtet, wenn sie seine Schwäche, die sie ahnten, hätten greifen können. Es war einer unter ihnen, der keinen Matrosenanzug trug. Er hieß Bohrer Johann. Sein Vater war Schreiber bei einem Anwalt. Bohrer trug einen braunen Rock und lange Hosen. Die Ärmel hatten an den Ellbogen glänzende Flecken. Seine Hände waren nicht weiß wie die der anderen Knaben. Sie waren rot, wie von Frost geschwollen. Josef Blau vermied es, diesen Knaben anzusehen oder eine Frage an ihn zu richten. Ihm war, als könnte Bohrer plötzlich von seinem Platz aufstehen, auf ihn, den Lehrer Josef Blau, zutreten und ihm unter dem tosenden Gelächter der Klasse auf die Schulter klopfen. Er fürchtete die Möglichkeit, daß die Knaben ihn, den Lehrer, mit Bohrer verglichen, mit dem sie aus Mitleid ihr Frühstück teilten. Keiner konnte wie Bohrer seine Angst durchschauen. Trotzdem Josef Blau die Antwort ahnte, fragte er Bohrer, einem stärkeren Willen gehorchend, der ihn an den Rand des Abgrundes führte, welchen Beruf er ergreifen wolle. Bohrer hob die Augen nicht, als er leise, als begriffe er Blaus Beschämung, erwiderte, er wolle Lehrer werden. Für einen Augenblick verlor Blau die Fassung. Er griff hinter sich nach der Wand. Er schloß die Augen. Aber schon erhob sich das Rauschen der Bewegung in der Klasse und schlug an sein Ohr. War das das Ende, begriffen die Knaben nun, daß es kaum einen anderen Beruf für den studierenden Sohn eines Schreibers gab, als den Beruf des Lehrers? Daß Josef Blaus Beruf ein Beruf war für arme Leute? Sahen sie sie nun für immer beieinander, Josef Blau und Johann Bohrer mit den frostgeschwollenen Händen? War er nun für immer beschämt? Er raffte sich auf, sein Blick verwandelte die Unruhe zurück in Starre. Er begriff, daß er zu härteren Mitteln greifen müsse, die Autorität fester zu begründen. Er dachte an die Möglichkeit, die die Lehrer früherer Jahre gehabt hatten, als sie über körperliche Zuchtmittel verfügten. Man hätte die körperliche Züchtigung durch einen Knaben an den anderen ausüben können und so nebenbei die Knaben uneinig machen, gegeneinander ausspielen können, wie das Schicksal, dem sie alle unterworfen sind, die Menschen gegeneinander ausspielt. Die körperliche Züchtigung war mehr als das Strafen durch Tadel, schlechte Noten, Nachsitzen, Strafarbeiten. Das waren Strafen, die nicht verletzten, die die Überhebung der Knaben mit einem Lächeln von sich abtun konnte. Die Züchtigung hätte den Schülern ihre körperliche Unterworfenheit unter die Macht des Lehrers augenfällig gemacht. Lehrer Blau würdigte die Grundsätze, die zur Abschaffung dieser Strafen geführt hatten. Er hätte sie trotzdem in Anwendung gebracht, wenn es erlaubt gewesen wäre, weil auch die Knaben gewiß jedes Mittel angewandt hätten, ihn zu vernichten. Er hätte nicht gezögert, da es um sein Brot ging. Er mußte die Anwandlungen der Milde unterdrücken, wenn er diesen Kampf nicht von Anfang an verloren geben wollte. Josef Blau wußte, daß das Ende über ihn hereinbrechen würde, aber er kämpfte um jede Stunde Verzögerung. Er wußte nicht, wo das Entsetzen seinen Anfang nehmen würde. Die Gefahren drohten von vielen Seiten, in der Welt der Schule und in der anderen, die nicht zur Schule gehörte. Die Berührung dieser beiden Welten hätte die Gefahr vergrößert, die Katastrophe beschleunigt. Er war sich dessen bewußt, daß er sich an Strohhalme klammerte, wenn er den Kampf gegen sein Geschick führte. Aber es gab nichts als Strohhalme gegen das Gesetz, das in seiner grausamen Härte gegen ihn war. Er verließ die Klasse mit achtzehn, in blaues Papier eingeschlagenen Heften unter dem Arm. Er hörte das Gewirr der Stimmen, das sich erhob, sowie die Tür hinter ihm ins Schloß fiel. Josef Blau sah die Knaben nicht mehr, aber er wußte, daß sie von ihren Plätzen sich erhoben hatten und die Bank umdrängten, in der Karpel saß. Karpel war der älteste, fünfzehnjährig. Blau fühlte, daß in Karpel sich die Feindschaft der Schüler gegen ihn vereinigte und vervielfachte. Wenn das Ende kommen, und wenn es hier und nicht zu Hause seinen Anfang nehmen würde, würde es von Karpel mit den schwarzen gescheitelten Haaren ausgehen. Karpels Gesicht war nicht mehr glatt und frauenhaft wie die Gesichter der anderen Knaben. Es war schmal und bleich, die Nase war vorspringend, um die Augen lagen blaue Schatten. An den Wangen schien es unrein von sprossenden, wolligen, schwarzen Haaren. Der Gedanke, daß auch der Körper dieses Schülers schon männliche Behaarung zeige, war beunruhigend, zumal auch Karpel die ausgeschnittene Kleidung der Mitschüler trug, beunruhigend, wie etwa der Anblick eines als Weib verkleideten Mannes für einen schamhaften Menschen, da man befürchten konnte, daß unversehens eine männlich behaarte Stelle des Körpers sich entblöße.

      Josef Blau fühlte die Überheblichkeit dieses Knaben, der ihn verachtete, wenn auch er seiner Verachtung noch keinen lauten Ausdruck gab. Gewiß, er sammelte seine Kräfte und seinen Haß gegen den Lehrer, um ihn losbrechen zu lassen, wenn die Zeit gekommen sein würde, den anderen das Zeichen zu geben, sich auf die Beute zu stürzen. Der Schüler hatte nichts zu verlieren. Wenn er die Schule verlassen mußte, würde sein reicher Vater andere Möglichkeiten für ihn finden. Aber der Lehrer war gerüstet. Es sollte ihnen nicht leicht werden unter seinen Augen, die er nicht von ihnen wandte, und unter seinem Blick, der sie hielt und durchschaute. Karpel senkte den Kopf, wenn Blaus Blick ihn traf. Er verbarg die Finger unter dem Pult, wenn des Lehrers Augen auf ihnen ruhten. Warum ließ er die Hände mit den glänzenden, sorgsam polierten Nägeln nicht liegen, aus welchem Grunde entzog er sie dem Blick des Lehrers, wenn nicht deshalb, weil er wußte, daß Blaus Nägel nicht poliert waren, daß der Anblick seiner Hände den Lehrer beschämte und daß die Zeit, Blau zu beschämen, noch nicht gekommen sei?

      Josef Blau beschleunigte seinen Schritt. Er hörte über sich auf der Treppe schon den Lärm der sich nähernden Knaben. Er trat auf die Straße in das nächste Haustor. Er wollte die Schüler an sich vorüber lassen. Nun kamen sie aus dem Haus. Sie sahen ihn nicht, der im Dunkel des Torbogens stand. Aber er konnte sie sehen, wie sie die Stufen, die vom Schultor zur Straße führten, herabsprangen, sich reckten und dehnten. Sie schwenkten die in den Riemen geschnallten Bücher. Sie standen ihm gerade gegenüber, in ihrer Mitte Karpel. Karpel sagte etwas und Blau hörte das vielstimmige Lachen an seinem Platz auf der anderen Straßenseite. Karpel stand da, die Hände lässig in den Hosentaschen, die Bücher sorglos unter den linken Arm geklemmt. Dieser Knabe war schon erfahren. Er kannte die verbotenen Lüste. Vielleicht auch kannte er schon die Frau. Blau schämte sich der Erfahrung des Schülers. Karpel schämte sich nicht. Karpel zog ein Blatt Papier aus der Tasche. Es ging von Hand zu Hand. Die Knaben lachten. Kein Zweifel, daß es eine anstößige Zeichnung war, die Karpel zeigte. Am Ende stellte sie ihn, den Lehrer Blau, vom erfahrenen Karpel gezeichnet, unter Umständen dar, die ihn dem Hohn preisgaben. Josef Blau konnte nicht vortreten, mitten unter die Knaben, das Bild mit Beschlag zu belegen.

      Er wäre von allen Seiten umdrängt gewesen. Jetzt war Hohn und Überhebung in allen. Sie hätten ihn jetzt mit Gelächter empfangen, da sie ihn, das Urbild der Zeichnung, in diesem Augenblick noch sehen mußten, wie Karpel ihn dargestellt hatte. Hier war keine Ordnung gegeben, der sie unterworfen waren, die Ordnung, in der der Platz den Knaben gegenüber für ihn bereit war. Hier, zwischen Menschen, Häusern, Wagen, im Lärm der Straße, hätte er sie erst schaffen müssen. Sie standen, ihre Ordnung war aufgelöst, sie waren in Bewegung. Hier war ihr Sieg leicht. Er wollte sich ihn so nicht abringen lassen.

      Josef Blau wartete. Als die Knaben gegangen waren, trat er aus dem Dunkel des Torbogens auf die Straße.

      Zweites Kapitel

      Er mußte die Stadt durchqueren, um zu seiner Wohnung zu gelangen. Er bewohnte mit Selma und deren Mutter eine gemeinsame Wohnung im obersten Stockwerk eines Mietshauses. Das Haus war schwarz vom Ruß des gegenüberhegenden Bahnhofs. Nur dort, wo der Mörtel sich von den Wänden gelöst hatte, war das Dunkel von hellen gelben Flecken durchbrochen.

      Die ganze Straßenseite entlang standen Häuser wie dieses. Jedes Stockwerk war von mehreren Familien bewohnt. Aus den Fenstern hing rotes Bettzeug. Dicke hutlose Frauen mit zerrauftem, spärlichem Haar, die Blusen lose um die Hüften flatternd, standen mit Kannen und Taschen vor den Türen. Josef Blau betrat den dunklen Hausflur. Ein Geruch von Feuchtigkeit und Speisen durchzog das ganze Haus. Aus den Wohnungen,

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