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Am Pier. Gerd Mjøen Brantenberg
Читать онлайн.Название Am Pier
Год выпуска 0
isbn 9788711454992
Автор произведения Gerd Mjøen Brantenberg
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Sie bemerkten, daß die Kellnerinnen vom Bjørnen sich hinter den hohen Fenstern drängten und sie ansahen.
„Ne, ne, jetzt stehnse wieder da und quasseln über uns, Mönsch!“ sagte Inger mit übertriebenem Fredrikstad-Tonfall. „Da stehen die Tochter von Doktor Holm und die Tochter von Zahnarzt Oppegård, und jetzt gehnse wieder zur Schule, sagense.“
„Ganz schön neugierig sindse ja, nich?“
Inger hielt sich die Hand an die Stirn und starrte zu den Kellnerinnen hinein. Die starrten mit strammen Mienen zurück und wichen nicht eine Sekunde. Inger und Lillian lachten sie an und winkten ihnen begeistert zu, erlitten dann aber einen so heißen Lachanfall, daß sie sich krümmten. „Wir sehn uns nachher“, sagte Inger. „Ja, um fünf, falls es kein Erdbeben gibt“, antwortete Lillian.
„Die sind ja vielleicht groß geworden“, sagte im Restaurant Iversen zu Ringstad.
„Ja, da sagste was Wahres“, antwortete Ringstad.
„Aber se sind noch genauso frech wie früher.“
„Da sagste auch was Wahres.“
„Ja, genau“, meinte Hauge. „Und die sollen nu aus besseren Kreisen kommen, meine Güte!“
„Ach“, erwiderte Iversen. „Man ist bloß einmal jung.“
„Ja, da sagste was Wahres“, wiederholte Ringstad. „Ein wahres Wort.“
„Aber als wir klein waren, sind wir doch nicht so rumgerannt und haben Faxen gemacht, oder?“
„Nein, ist noch gar nicht so lang her, daß sie uns einen Schneeball durchs Küchenfenster geschmissen haben. Und der ist im Suppentopf gelandet.“
Das war die Köchin, die sich zu ihnen gesellt hatte. Als Iversen das hörte, lachte sie laut und herzlich. Wie ein junges Mädchen lachte sie, und die hohen Fenster klirrten dazu.
„Iversen! Und wenn jetzt der Chef kommt?!“
„Ja, ich sag’s ja“, das war Hauges Schlußfolgerung, „die Kinder von besseren Leuten sind die Schlimmsten.“
„Warten wir’s ab, Hauge. Aus denen kann auch noch was werden“, sagte Iversen.
Mit diesem Urteil kehrten sie zu den Tischen zurück. Denn, ganz richtig, der Chef war im Anmarsch.
„Na, wie war’s denn in der Schule?“ fragte Mama.
„Ich hab’ keine Bekannten von St. Croix in meiner Klasse. Nur Sølvi Andersen. Bestimmt, weil wir auf der Volksschule so frech waren. Jetzt bin ich in einer schrecklichen Klasse mit lauter Engelchen.“
„Vielleicht wird das besser, wenn du sie näher kennengelernt hast?“ fragte Evelyn.
„Und die Lehrer erst mal! Die sind das Ärgste, was ich in meinem Leben gesehen habe. Die waren alle total verwirrt. Und dann kriegen wir für jedes Fach einen Lehrer, stell dir das vor. Und wir sollen ‚Sie‘ zu ihnen sagen. Ich freu mich auf Deutsch. Aber der Deutschlehrer sieht total vertrocknet aus.“
In diesem Moment läutete das Telefon. Inger nahm ab.
„Bei Dr. Holm, ja bitte?“
Am anderen Ende hörte sie Astrid Evensens Stimme.
„Ach, ist das schrecklich! Ich bin in einer total öden Klasse mit lauter Bauern gelandet! Nur Typen von Lahellemoen und Torp in Børje und Selbak und ein Haufen Leute aus Onsøy.“ Sie weinte fast am Telefon.
„Himmel, wie scheußlich! Bist du denn nicht mit Marthe und Vivi zusammen?“
„Doch, aber die wissen auch nicht, was sie machen sollen.“
„Weißt du was? Ich glaube, die haben uns aus purer Bosheit getrennt.“
„Wie ist denn deine Klasse?“
„Ach, da gibt’s fast nur Trara-Menschen. Ich hab’ noch nicht mit ihnen geredet. Aber vielleicht wird das besser, wenn wir sie näher kennenlernen?“
„Ja-a.“ Astrid hörte sich nicht sehr überzeugt an. „Wie heißen die denn?“
„Einer heißt Leif Bang Monradsen und einer Sigvart Jespersen und – nein, ich weiß auch nicht, wie die anderen heißen.“
„Ich frage mich, ob ich nicht versuchen soll, in deine Klasse versetzt zu werden. Bei dir ist noch eine, die ich von früher her kenne.“
„Ja, mach das.“
Prokurist Evensen aus Cicignon sprach mit dem Rektor, und am nächsten Tag war auch Astrid in der B-Klasse. Gott sei Dank dafür, wenigstens.
Seit vier Jahren stand ein kleiner dunkelbrauner Koffer mit blanken Ecken im Kabuff. Seit Helgas Tod hatte niemand ihn geöffnet. Aber Inger hatte ihn oft betrachtet und nachgedacht. Kein Tag verging, an dem sie nicht an ihre große Schwester dachte. Jetzt ging sie mit der Liste, die sie in der Schule bekommen hatte, wieder zu Evelyn in die Küche. Ob sie vielleicht den Koffer öffnen sollten? Evelyn trocknete sich die Hände ab und nickte.
Zusammen holten sie den Koffer hinter Stiefeln und Pappkartons hervor und trugen ihn ins Kämmerchen. Inger öffnete ihn. Darin lagen die Bücher, eingeschlagen in glattes, gelbes Umschlagpapier, Helga hatte sie mit dunkelblauer Tinte in Schönschrift beschriftet. Englisches Lesebuch von Helga Gjarm Holm. Deutsche Grammatik von Helga Gjarm Holm.
Ach, wie neidisch war sie auf diese Bücher gewesen! Inger spürte, wie es zu ihren Augen aufstieg, das Gefühl, das sie gehabt hatte, als sie die Bücher zum erstenmal sah. Damals waren sie auf Helgas Schreibtisch und Bett verstreut gewesen. Jetzt wurde Helga erwachsen. Ob Helga jetzt wohl keine Zeit mehr haben würde, mit ihr zu spielen?
Nun stand sie hier, am Rand der Welt, in die Helga nur kurz einen Fuß gesetzt hatte. Sie holte tief Atem und faltete die Buchliste mit den angekreuzten Büchern auseinander.
„Wollen wir mal nachsehen?“ fragte sie Mama.
Evelyn dachte an alle Briefe, die sie damals bekommen hatten. Sie waren so erfüllt von echtem Mitgefühl gewesen. Und alle hatten versucht, einen Trost zu finden. Einige sagten, vielleicht sei Helga viel erspart geblieben, im Leben gibt es soviel Grausames, es ist gut, jung zu sterben. Andere schrieben: „Wen der Herr liebt, nimmt er früh zu sich.“
War Helga ein Liebling Gottes? Aber was war dann mit allen anderen Kindern, die er nicht zu sich nahm?
Dennoch hatte sie in der Religion ihren größten Trost gefunden. Eine entfernte Freundin hatte ihr geschrieben, sie müßte ihr glauben, es hätte einen Sinn, wir wüßten ihn bloß nicht. Gott wüßte ihn, und zu guter Letzt war Sein Weg der einzige, den man gehen konnte.
Sie hatte es versucht. Und manchmal glaubte sie, einen Sinn zu sehen. Nein, keinen Sinn, sondern einen größeren Zusammenhang. Eine Glut, eine Hoffnung. Obwohl doch damals, vor vier Jahren, gerade die Hoffnung zerbrochen war.
„Mama?“ fragte Inger, als sie in die Küche kam. „Weißt du, was ich mir so überlege?“
„Nein.“
Inger redete nicht sofort weiter. Sie ging zum Küchenfenster, setzte sich auf den Rand des Spülsteins, stellte die Füße auf die Heizung, wie das so ihre Gewohnheit war, und blickte hinaus auf die halbfertige Kråkerøybrücke.
„Ich habe mir überlegt, daß ich jetzt genauso alt bin wie