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Das Herz einer Mutter - Unterhaltungsroman. Marie Louise Fischer
Читать онлайн.Название Das Herz einer Mutter - Unterhaltungsroman
Год выпуска 0
isbn 9788726444797
Автор произведения Marie Louise Fischer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Wenn du ein bißchen Familiensinn hättest, Karin«, sagte Frau Reimers, »würdest du wenigstens zum Mittagessen dableiben. Nachher kannst du ja immer noch fort. Warum ihr Mädels nur immer diese Angst habt, was zu versäumen.« Ihre Hände hörten nicht eine Sekunde auf, den Teig zu bearbeiten.
Karin stand gegen den Türpfosten gelehnt, die Hände in den Taschen ihres Morgenmantels. »André Colbert holt mich ab«, sagte sie in einem Ton, als wenn dies alles erklärte.
Frau Reimers horchte auf. »So? Das ist natürlich schön für dich! Er ist ein netter, feiner Mensch . . . und aus einer so guten Familie!«
»Eben. Und deshalb wirst du verstehen, daß ich ihn nicht versetzen will.«
»Dann bitte ihn doch einfach, zum Essen zu bleiben.«
»Das möchte ich nicht, Mutti, das . . . könnte einen falschen Eindruck bei ihm erwecken. Er soll nicht glauben, daß ich es darauf angelegt habe, ihn einzufangen.«
»Früher, als er noch mit Helga befreundet war, ist er öfters zum Essen bei uns gewesen.«
»Die Sache mit Helga ist dann ja auch schiefgegangen, nicht wahr?«
»Du meinst . . . weil ich ihn mal zum Essen eingeladen habe?«
Karin lachte auf. »Unsinn, Mutti, doch nicht deswegen. Wahrscheinlich kam Verschiedenes zusammen.«
»Aber dann . . .«
Karin legte ihren Arm um die Schulter der Mutter und gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange. »Es tut mir sehr leid, Mammutschka, aber ich habe jetzt keine Zeit, mich mit dir über Gott und die Welt zu unterhalten! André kann jeden Augenblick da sein, und ich bin noch nicht umgezogen!« Schon war sie aus der Küche gehuscht.
Anna Reimers blieb allein zurück. Ihre Hände, die eben noch so fleißig gearbeitet hatten, wurden langsamer.
Seltsam, dachte sie, ein ganzes Leben lang schafft und sorgt und kümmert man sich um die Familie, immer nur um die Familie. Für einen selber bleibt gar nichts. Und dann, wenn man denkt, jetzt werden sie endlich einmal alle beisammen sein, man wird ein bißchen fröhlich sein und miteinander plaudern können, dann – sind sie auf einmal alle fort. Und man ist allein. Mutterseelenallein.
Sie merkte selber erst, daß sie weinte, als eine Träne in den Teig tropfte. Sie wischte sich mit dem Unterarm über die Augen. Ein bißchen Teig blieb in ihrem sorgfältig frisierten Haar hängen.
Als Helga Reimers, alias Kitty, ihren Koffer in der Hand, durch die Straßen der alten Stadt schritt, lag ein leichter silberner Dunstschleier über Bingen. Nur die Dächer der Burg Klopp glänzten hoch oben im Sonnenlicht. Es versprach ein wunderbarer Frühlingstag zu werden. Vom Rhein wehte der vertraute Geruch von Wasser und Tang herüber.
Helga begriff durchaus, daß dies alles schön und anheimelnd war, und dennoch hätte sie in jedem Moment die Großstadt mit ihrer Betriebsamkeit und ihren Lichtern dem Kleinstadtidyll vorgezogen.
Vielleicht lag es daran, daß sie noch in der alten Heimat geboren war, aus der ihre Eltern, als sie drei Jahre alt war, hatten flüchten müssen. Sie konnte sich zwar nicht mehr an das, was vorher gewesen war, erinnern, dennoch hatte sie in der Stadt zwischen Rhein und Nahe nie wirklich Wurzeln geschlagen. Bei Karin und Rolf war das anders. Sie waren hier zur Welt gekommen und aufgewachsen, sie kannten nichts anderes und wünschten sich nicht fort.
Wahrscheinlich, dachte Helga, werden sie hier bleiben, bis sie versauert und verschimmelt sind. Ihr sollte es recht sein.
Sie war es nicht gewohnt, längere Strecken zu Fuß zu gehen, aber sie schritt tapfer weiter. Ihrer Eltern wegen wollte sie nicht mit einem Taxi vor dem Haus in der Turmstraße vorfahren. Es war auch so mühsam genug, das Bild lebendig zu halten, das sie sich von ihr machten – das Bild der tüchtigen kleinen Verkäuferin, die sich von früh bis spät die Beine in den Leib stand und hin und wieder durch eine Gehaltsaufbesserung belohnt wurde.
Vor dem Wirtshaus »Zur Goldenen Traube« blieb Kitty stehen, wechselte den Koffer von der rechten in die linke Hand. Die »Goldene Traube« hatte sich jedenfalls in all den Jahren nicht verändert. Breit und behäbig stand sie an ihrem Platz, mit den tief in dicken Mauern liegenden Fenstern, dem runden, kunstvoll geschnitzten Torbogen. Das Wirtshaus gehörte, wie die Weingüter draußen vor der Stadt, der Familie Colbert. Und hier hatte eigentlich alles begonnen.
Wie lange war es her? Nur drei Jahre? Helga konnte es fast nicht glauben, es kam ihr viel, viel länger vor, wie ein Ereignis aus einem anderen Leben, einer anderen Welt.
Dennoch erinnerte sie sich sehr gut an alles, an jede Einzelheit jenes denkwürdigen Tages, an dem man sie zur Weinkönigin gekürt hatte. Wie glücklich war sie gewesen und wie stolz die Eltern! Welch ein Triumph! Damals war sie überzeugt gewesen, endlich den ersten Schritt zu ihrer Karriere getan zu haben – und das hatte sie wohl auch wirklich, wenn die Karriere, die sie dann eingeschlagen hatte, auch entschieden anders aussah, als sie es sich je vorgestellt hatte.
Während Helga weiterging, glaubte sie wieder den Applaus der Gäste und Einheimischen zu hören. Man hatte ihr Wein zu trinken gegeben, immer wieder, viel mehr, als sie vertragen konnte. Aber noch berauschender hatten die Komplimente gewirkt, die auf sie hereingeprasselt waren.
»Sie sind zu schön, viel zu schön für dieses Nest! Sie gehören nach Berlin oder München – zum Film. Ihr Bild auf einer Titelseite! Wenn man so aussieht wie Sie, muß man Karriere machen!«
Und sie hatte alles in sich eingesogen und für bare Münze gehalten.
André . . . Wo war André die ganze Zeit gewesen? Helga konnte sich nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich hatte sie damals, in ihrem Siegestaumel, auch gar nicht mehr auf ihn geachtet. Und doch war sie einmal verliebt in ihn gewesen, dumm und albern und verliebt.
Er war nicht ihr erster gewesen. Nein, es hatte schon viel früher angefangen, im letzten Schuljahr, als sie sich nachmittags mit den Jungen auf den Hängen zwischen den Rebstöcken herumgetrieben hatte. Aber André war der erste gewesen, der Eindruck auf sie gemacht hatte.
Wie alt mochte er jetzt sein? Fünfundzwanzig? Sechsundzwanzig? Damals war er jedenfalls noch ein grüner Junge gewesen. Aber sie hatte es ihm auch leicht gemacht.
Erst auf dem Winzerfest, als sie zur Weinkönigin gewählt wurde, war sie sich ihres Wertes voll bewußt geworden. Aber dumm war sie noch immer gewesen, dumm und unerfahren. Sie hatte alles geglaubt, was ihr die Männer versprochen hatten, alles wörtlich genommen.
Der dicke Berliner hatte leichtes Spiel mit ihr gehabt. »Ich bin Manager«, hatte er ihr gesagt, »ich bringe dich ganz groß heraus!« Und sie war mit ihm auf das Zimmer gegangen, ohne Zögern, ohne auch nur einen Gedanken an André zu verschwenden.
Aber er stand auf dem Flur, als sie herauskam – zerzaust, den Rebenkranz schief auf die blonden Haare gedrückt, an den silbernen Knöpfen ihres roten Mieders, die nicht zugehen wollten, herumfummelte. Er hatte nichts gesagt und nichts gefragt, er hatte sie nur angesehen und war gegangen.
Der dicke Berliner war auch am nächsten Tag fort gewesen. Ihr neu erworbener Ruhm verblich im Grau des Alltags. Sie war keine Weinkönigin mehr, sondern ein Nichts: das Flüchtlingsmädchen Helga, Tochter des städtischen Angestellten Paul Reimers.
Da hatte sie es in Bingen nicht mehr ausgehalten. Niemand hatte ihr geholfen, sie hatte sich ganz allein und aus eigener Kraft die Stelle im Frankfurter Kaufhaus besorgt.
Merkwürdig, dachte Helga Reimers, in Frankfurt denke ich doch nie mehr daran, aber hier in Bingen überfällt’s mich einfach, ob ich will oder nicht.
Es war ihr, als ob aus allen Ecken und Winkeln der alten Stadt die Vergangenheit hervorkäme.
Jetzt ging sie die enge Turmstraße entlang. Aus den Häusern drang Radiomusik, aus offenen Fenstern kam der Duft von gebratenem Fleisch. Helga blieb einen Augenblick stehen. Dann öffnete sie die Haustür, stieg die steile Stiege in dem dunklen Treppenhaus hinauf und drückte auf die Klingel unter dem Türschild »Paul Reimers«.