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Die Süßkirschenzeit. Lis Vibeke Kristensen
Читать онлайн.Название Die Süßkirschenzeit
Год выпуска 0
isbn 9788711459874
Автор произведения Lis Vibeke Kristensen
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Schicht, sagt sie, Zusatzschicht, sie nimmt alles, was sie kriegen kann, besonders an den Feiertagen. Sie hat niemanden, mit dem sie einen Feiertag verbringen kann und sie braucht das Geld, die Wohnung ist teuer, das Essen ist viel teurer als zu Hause. Sie sagt zu Hause und eine Sekunde verschleiern sich ihre Augen, aber dann muss sie los und gibt ihm den Schlüssel, schlaf in meinem Bett sagt sie, ich komme erst Montagmorgen zurück, dann muss ich selber einen ganzen Tag schlafen. Ein schiefes Lächeln ist alles, was er von ihr bekommt, keine Umarmung. Sieht er aus, als hätte er eine Krankheit? Sein Magen knurrt, aber sie hat nichts von Essen gesagt. Oben in der Wohnung stinkt es nach Zigaretten, auf dem Küchentisch steht ein Aschenbecher mit kalten Stummeln und der Kühlschrank ist leer. Total leer. Nicht mal eine vergessene Karotte, kein Rest Milch in einer Flasche. Der Kühlschrank riecht nach Hunger und leeren Mägen und das war nicht wirklich das, was er sich vorgestellt hatte. In seiner Fantasie platzten alle westlichen Kühlschränke vor Essen.
Auf der Uhr an der Küchenwand ploppt sich der Zeiger weiter durch den letzten Tag im Oktober, einen Freitag. Am Montag kann er Geld wechseln. Am Montag kann er Essen bekommen. Jetzt kann er nur warten. Er packt seine schlaffe Tasche aus, legt die Sachen nebeneinander aufs Bett, das nicht gemacht ist und nach Körper riecht und da ist ein kleiner Blutfleck auf dem Laken. In der Innentasche der Tasche liegt eine Tafel Schokolade, die er in Belgrad für sein letztes Geld gekauft hat, bevor er sich wieder in den Zug setzte. Der Druck der vergangenen Stunden hat ihn dazu gebracht, die Schokolade zu vergessen. Jetzt bei ihrem Anblick treten ihm Tränen der Erleichterung in die Augen. Dunkle Schokolade mit Nüssen. Die Schokolade gibt dem Gehirn Zucker, die Nüsse geben ihm Nahrung, etwas mit dem er sich stärken kann. Er bricht zwei Vierecke ab und will sie in den Mund stecken. Dann überlegt er es sich anders und teilt das Stück, legt ein Viereck auf die Zunge und lässt es schmelzen, langsam, langsam, kaut auf den Nüssen, bis sie ganz aufgelöst sind, bevor er sie runterschluckt.
Die Heizung ist runtergedreht und es ist kalt in der Wohnung, aber er würde die Gastfreundschaft ausnutzen, würde er ihre Wärme nutzen, sie ist bestimmt teuer, wie alles, in diesem Land. Seine Zähne klappern, vor Kälte und weil sich die Spannung endlich löst. Hier wird niemand an die Tür klopfen und ihn mitschleppen oder das glaubt er, aber er kann nicht sicher sein, wie sollte er sicher sein können? Er kriecht vollständig angezogen unter die Decke, aber er friert immer noch und die Versuchung ist zu groß, ein Teil von ihm schwingt die Beine aus dem Bett auf den Boden und geht die paar Schritte zur gegenüberliegenden Wand und dreht den Knauf auf. Es plätschert vielversprechend in der schweren Heizung und er spürt, wie sich eine vorsichtige Wärme in dem massiven Eisen ausbreitet und auch wenn er den Knauf auf null zurückdrehen sollte, tut er es nicht. Das Bett wartet auf ihn und er wickelt die Decke um seinen zitternden Körper, schiebt das Kissen unter seinem Kopf zurecht. Sekunden später schläft er. Er wacht ein paar Mal im Laufe der Nacht auf, jemand ruft unten auf der Straße, ein Auto bremst, das Tor wird zugeworfen und er horcht auf die Schritte auf der Treppe, schwere Schritte, laute Stimmen, aber die Schritte halten nicht auf seiner Etage, sie gehen weiter und er isst das letzte Viereck der Schokolade und lässt den süßen Geschmack die Unruhe besänftigen, sodass er wieder zurück in den Dämmerschlaf gleiten kann.
Dann ist es plötzlich hell draußen vor dem Fenster und er sitzt auf einem Hocker in der eiskalten Küche. Er zwang sich, die Wärme auszustellen, irgendwo gibt es Grenzen und er trinkt ein Glas Wasser, das fünfte an diesem Morgen. Schaut auf die Uhr an der Wand, wo jede Sekunde eine Stunde dauert. Er zählt die Sekunden, die Minuten und bald wird er in der Botschaft stehen. Er wird nicht in Wien bleiben, er muss weiter und sein Magen grummelt und schreit und tut weh, aber in der Botschaft hören sie nur seine Sprache und glauben, er sei Österreicher, niemand will seinen Pass sehen und er geht hinaus in die Novemberkälte mit einem gestempelten Papier in der Hand und auf dem Papier steht sein Name.
In der Teeküche ist die Temperatur gefallen, die Nachtabsenkung ist effektiv, bemerkt er und die Zeiger der Uhr sind zu einem geworden. Viertel nach neun ist immer noch früh und er hat keine Lust zurück in die Wohnung zu gehen, wo er die Wahl hat, den Fernseher einzuschalten oder es zu lassen. Der Kaffee in der Dose duftet gut und er brüht sich eine Kanne auf, misst sorgfältig ab, Wasser und Kaffeepulver in den richtigen Mengen. Die anderen pfeffern einfach eine ordentliche Portion in den Filter, matschen mit Wasser, sodass die Küchenarbeitsplatte überschwemmt wird. Sie machen sich über seine Pedanterie lustig und er hat sich daran gewöhnt, der Ton zwischen den Leuten in diesem Land ist ironisch, man neckt einander und macht Witze und es wird laut über die Besonderheiten und Gewohnheiten der Leute gelacht, Spitznamen gehören zur Tagesordnung. Am Anfang hat es ihn gestört, dass er nie wusste, woran er bei den Leuten war, jetzt lässt er es abprallen, was bedeutet es schon, dass sie ihn Tante nennen, wenn es sie amüsiert, ist es ok für ihn.
Es wäre leichter gewesen, wenn er in Deutschland geblieben wäre, wie er es sich zuerst überlegt hatte. In Hamburg hätte er Hilfe bekommen können, die Adresse eines Praktikanten, der bei seiner letzten Vorstellung in Berlin Regieassistent gewesen war, stand auf der Rückseite des Zettels mit der Telefonnummer der Freundin.
Der Kaffee ist warm und schmeckt gut. Er ist es, der sich um die Kaffeekasse kümmert und er kauft nur den besten, etwas teureren, aber das ist es ihm wert. Er kostet jeden Schluck, als wäre er der letzte Kaffee, den er in diesem Leben bekommt, versucht sich auf den Kaffeegeschmack zu konzentrieren, aber ständig drängen sich Bilder auf.
Er steht auf dem Bahnsteig im Hamburger Hauptbahnhof mit seiner Tasche über der Schulter, auf westdeutschem Boden und er müsste nur ein paar Schritte gehen, ein Telefon finden und die Nummer auf dem Zettel anrufen, den er in der Zwischenzeit vom Schuh in die Hosentasche gesteckt hat, als sie ihm entgegen kommen. Zwei uniformierte Männer, breitschultrig, vielleicht sind sie bewaffnet, oder vielleicht sieht es auch nur so aus, sie gehen Seite an Seite und nehmen direkt Kurs auf ihn, in einem Augenblick erreichen sie ihn, drehen seine Arme auf den Rücken und ziehen ihn mit, wohin, weiß er nicht, aber er muss als Betrüger, der er ist, enttarnt sein. Der Fremdenpass liegt weiterhin in der Tasche, er ist unter falschen Voraussetzungen in das Land gekommen und wie soll er erklären, dass er, der am prestigeträchtigsten Theater seines Landes angestellt ist, dem Flaggschiff des Regimes, dem Stolz der Nation, sich hier mit dem Pass eines anderen Mannes in der Tasche befindet? Er könnte ein Spion sein, er könnte mit feindlichen Nachrichtendiensten unter einer Decke stecken und er könnte unter Gefängnisstrafe oder Ausweisung stehen und das eine ist nicht besser als das andere.
Bevor er es sich anders überlegen kann, steht er im Zug. Eine Frau mit einem Säugling auf dem Arm hat sich auf seinen Platz gesetzt und er schlüpft in die nächste Toilette und schiebt den Riegel vor. Dort bleibt er stehen, bis er merkt, dass sich der Zug in Bewegung setzt und aus dem Bahnhof gleitet. Er reißt den Pass gründlich in Stücke, winzige Fetzen, die er in der Toilette verschwinden lässt, sieht sie auf die Gleise flattern und verschwinden. Seine Fahrkarte galt lediglich bis Hamburg, aber im besten Fall erkennt der Schaffner ihn wieder und erinnert sich nur, dass er die Fahrkarte kontrolliert hat. Im schlimmsten Fall ist es trotzdem nicht so schlimm, weil er Geld hat, um eine neue Karte zu bezahlen, jetzt kommt er zurecht, aber niemand fragt nach seiner Karte, niemand fragt überhaupt nach irgendetwas, nicht nach seinem Visum, nicht nach seinem Geld, nichts und dann ist er an der Grenze. Der dänischen Grenze, die nur ein Strich auf einer Landkarte ist, die aber nichts desto trotz eine Grenze ist, berechnet, um solche wie ihn zu stoppen. Er spürt, wie sich die Kälte über seinen Rücken ausbreitet und den festen Griff um den Nacken, als er die Stimmen auf dem Bahnsteig hört und die Schritte im Korridor, aber die Grenzbeamten gehen vorbei, er erhascht einen kleinen Blick auf sie und sie sehen freundlich aus, einer von ihnen lacht über etwas, das der andere sagt und der, der lacht, hat einen Vollbart. In dem Land, das er verlassen hat, sind die Leute in Uniform bartlos, ein Beamter mit Bart kann niemandem etwas Böses wollen und er entscheidet sich auf der Stelle. In diesem Land hier will er bleiben und er will sich einen Bart zulegen. Je früher, desto besser.
Auf der Bühne wird er nicht stehen können, nicht ohne Sprache, aber am Theater arbeiten kann er trotzdem, als Kulissenträger oder Techniker. In der Amateurtruppe