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      Lis Vibeke Kristensen

      Die Süßkirschenzeit

      Roman

      Aus dem Dänischen von

      Kathrin Dreymüller

      SAGA

      … Ich singe ein Lied über die Kirschenzeit

      So kurz und so voller Träume wenn man zu zweit ist

      Ich hänge zwei glühende Kirschen über dein Ohr

      Ein Liebespfand.

      Sie leuchten so rot so warm so süß

      Bis sie sich in Tropfen aus Blut verwandeln …

      Frei nach Jean-Baptiste Clément:

      Les Temps des Cerises

      Teile dieses Buches sind von wirklichen Begebenheiten und wirklichen Personen inspiriert. Die Autorin hat sich frei zum Material verhalten. Das Buch soll als ein fiktives Werk betrachtet werden und erhebt keinen Anspruch auf historische Korrektheit.

      Kopenhagen 1971

      Er bekommt nie Pakete, wer sollte ihm Pakete schicken? Er kauft nichts per Postauftrag und er kennt niemanden, der auf den Gedanken kommen könnte, ihm ein Weihnachtsgeschenk zu schicken. Ein heimlicher Bewunderer ist die am wenigsten unwahrscheinliche Erklärung, vielleicht die Vorsitzende des jütländischen Theatervereins, die helfen wollte, aber im Weg war. Einer der Kollegen könnte ihr die Adresse gegeben haben, sie waren sehr damit beschäftigt, dass sie ein Auge auf ihn geworfen hatte.

      So steht er mit dem Paket in der Hand da. Es wiegt sicher ein Kilo und ist so groß wie ein Lexikon. Es sind deutsche Briefmarken darauf, westdeutsche. Die Adresse ist maschinengeschrieben, der Absender sagt ihm nichts. Die Stasi folgt Flüchtlingen weit bis in ihr neues Leben und schlägt zu, wenn sie aufhören, auf der Hut zu sein, aber Briefbomben schickt man wichtigen Personen, nicht einem kleinen Würstchen, wie ihm, und die Form des Pakets ist regelmäßig, ohne Dellen oder etwas, das sich wie Metall oder Kabel anfühlt.

      Er nimmt ein Messer aus der Küchenschublade und macht sich an das Paketband. Derjenige, der das Paket verpackt hat, hatte genug davon. Alle Seiten und Ecken sind mit braunem Paketband verklebt. Im Paket liegen ein Brief und ein weiteres Paket. Der Brief hat einen Briefkopf von einer Anwaltskanzlei aus Frankfurt. Auf dem Paket steht: Im Falle meines Todes, und in einer neuen Zeile: Wird ungeöffnet gesendet an, und dann sein Name und seine Adresse. Die Schrift ist dieselbe, wie auf dem Zettel, der in seiner Brieftasche liegt, der letzte Zettel, den sie an ihn geschrieben hatte.

      Falls Sie ernsthafte Probleme haben, steht Ihnen das Theater gerne mit Rat und Tat zur Seite, steht dort. Haben sie einfach nur schlechte Laune, möchte ich Sie bitten, diese außerhalb des Arbeitsplatzes zu lassen.

      Der Zettel lag in seinem Postfach im Theater. Die Kritik eines Chefs oder die Zurechtweisung eines widerspenstigen Kindes durch einen Lehrer, korrekt und formell, ohne jegliche Gefühle. Dies war die schwierigste Phase und er erinnert sich, dass er dachte, den hier behalte ich. Den hier nehme ich raus und lese ihn, wenn ich sie vermisse. Seit fast zehn Jahren liegt er in seiner Brieftasche und er hat ihn nicht herausgenommen, nicht einmal, als ihn die Sehnsucht nachts wach gehalten hatte. Dass sie jetzt tot ist, ändert nichts, für ihn war sie schon seit langem tot.

      Das Paket liegt auf dem Küchentisch. Gleich öffnet er es. Gleich nimmt er es, geht die Treppe herunter, auf die Rückseite des Hauses und wirft es in die Mülltonne. Gleich geht er los und kauft braunes Papier und Paketband, packt es wieder ein und schickt es an den Absender zurück. Aber es ist schon spät und wenn er den Tourneebus erreichen will, der nicht wartet, ist jetzt keine Zeit. Im Schlafzimmer packt er seine Tasche mit dem Notwendigsten für drei Übernachtungen. In der Küche knüllt er das Umschlagpapier mit dem Paketband zusammen und wirft es in den Mülleimer, bindet die Tüte zu und stellt sie an die Tür. Er hinterlässt nie Unordnung und Schweinerei, aus Prinzip. Selbst wenn er nur kurz zum Kaufmann geht, räumt er auf.

      Das Paket liegt immer noch dort. In seinem grauen Papier mit einer Schnur drum, mit vielen Knoten. Er trägt es ins Wohnzimmer, wo sich sein neues Regal bereits unter den Büchern, die ihm Gesellschaft leisten, biegt. In dem kleinen Schrank des Regals bewahrt er wichtige Papiere und die Geldkassette, in die er jeden Monat Geld für den Haushalt legt. Aber dort soll das Paket nicht hin.

      Das Sofa ist ein Schlafsofa. Er hatte es gekauft, ohne zu wissen, dass es eins war, wegen des Aussehens und des Komforts, aber wenn er den Rücken aufklappt, ist dort ein Hohlraum. Er hat keine Übernachtungsgäste und keine Extradecke, der Stauraum ist leer. Das Paket legt er, aus Gründen, die er selbst nicht kennt, in eine Irma-Tüte. Nach genauerem Nachdenken, in eine weitere Tüte. Er wickelt Gummibänder darum und klemmt es unter ein paar Federn in den Rücken des Sofas. Dann klappt er den Rücken zurück.

      Dort kann es liegen. Bis er tot ist und das Sofa auf einer Auktion verkauft oder zur Müllhalde gebracht wird. Oder wenn er es eines schönen Tages herausnimmt und sich vielleicht, vielleicht auch nicht, entscheidet, es zu öffnen.

      Kopenhagen 1989

      In seinem Fernseher sind Menschen auf die Mauer geklettert. Sie stehen in Gruppen dort oben und sie umarmen sich, rufen und singen. Selbst sitzt er sicher auf seinem dänischen Sofa und sieht zu, wie sie auf die andere Seite der Mauer klettern und mit Hacken auf den Beton losgehen, bald sind dort Löcher, bald strömen Hunderte von Menschen in beide Richtungen und niemand hält sie auf. Alle Fernsehnachrichten berichten davon und die Sprecher geraten bei jedem Stückchen Mauer, mit dem jemand vor der Kamera herum winkt, vor Begeisterung mehr und mehr außer Atem. All die Gesichter, die herangezoomt werden, sehen betrunken aus, als ob sich eine ganze Nation entschieden hat, sich zu betrinken. Fünf in einem kollektiven Rausch gerade sein zu lassen und nicht an den morgigen Tag zu denken.

      Das Bier in seinem eigenen Glas auf dem Sofatisch wird lauwarm, während er das anstarrt, was wie ein Spielfilm aussieht, das Werk eines Träumers, aber wie ihm die eifrigen Sprecherstimmen versichern, die mehr und mehr wie Sportjournalisten klingen, die leibhaftige Wirklichkeit ist.

      Er könnte runter in den Weinkeller gehen, sich in den Zigarettenrauch setzen und mit den anderen Stammgästen einige Worte wechseln, du bist doch Deutscher, ist es nicht so? Deutschtum öffnet hier in diesem Land keine Türen, aber als Flüchtling des Kommunismus hat man irgendwie eine Aura und es ist nicht undenkbar, dass jemand einem ein Bier ausgeben will, um zu feiern, dass er zum Schluss recht bekommen hat.

      Der, der zuletzt lacht. Aber er lacht nicht. Die Tränen strömen die Wangen herunter und er macht sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Sie laufen und laufen und tropfen auf den Pullover, legen sich als ebenso viele Tautropfen auf die blaue Wolle. Blau ist seine Farbe, die Frauen, die über die Jahre sein Bett passiert haben, bemerken das. Du gehst immer in Blau, sagen sie. Nie etwas anderes, willst du es nicht mal mit schwarz versuchen oder grau oder direkt rot? Im Schrank hängen oder liegen sie, Jeans, Cordhosen, Pullover, Hemden und T-Shirts, alle zusammen blau.

      Seit dreißig Jahren sucht er nach dem richtigen Farbton, ohne ihn zu finden. Das eine Mal, als er in Paris war, ging er zu dem Geschäft, wo sie das Hemd für ihn gekauft hatte, aber es war weg, ersetzt durch ein Eiscafé.

      Kein Hemd saß wie dieses. Kein Hemd wurde wie dieses geliebt, falls man ein Hemd lieben kann. Durch das Hemd liebte er sie, die es ihm gegeben hatte. Jedes Mal, wenn er es anzog, schwoll seine Hose an und er sehnte sich nach ihrem sehnigen Körper, ihrer rauen Leidenschaft und der Blase aus Lust, die ihr Zuhause war. Die Lust und die Gespräche, wenige Worte, viele Schichten, keiner von ihnen war geschwätzig, das Wesentliche wurde gesagt und lebte im Gehirn weiter, vibrierte im Magen, klingelte in den Ohren zwischen den kurzen Treffen. Sie war die Chefin, er der talentierte Bursche. Unbeliebt bei den anderen und er verstand nicht warum, bis sie es ihm erklärte. Er hatte die Rolle eines beliebten Kollegen übernommen, der wegen seiner Ansichten im Gefängnis gelandet war und wo stand er selbst und konnte man ihm vertrauen?

      Wenn er zurückdenkt, ist es seine eigene Naivität, der er begegnet. In seiner Kindheit hatte er gelernt, dass die Dinge das waren, was sie zu sein schienen und er war nicht in der Lage, die einfachsten Phänomene zu durchschauen. Intrigen waren nur ein Wort, Machtspiele ein anderes

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