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der Fernseher lärmt weiterhin im Hintergrund. Dieses Mal sind es nicht die Topfpflanzen, um die es geht, sie hat eine beschlagene Flasche Schnaps in der Hand, Rød Ålborg, und zwei Gläser und sie lächelt mit ihren fleckigen Zähnen.

      – Die Mauer fällt, sagt sie. – Das muss doch gefeiert werden.

      Sie steht bereits im kleinen Flur und er kann sie riechen, eine Mischung aus altem Schnaps und dem schweren Parfüm, das sie über sich geschüttet haben muss, um das Schlimmste zu überdecken. Das Ergebnis lässt seinen Magen rumoren. Hinter ihm rufen die Fernsehstimmen, Stasi raus, Stasi raus. Sie haben zu der Demonstration im September geschaltet, wo das Ganze angefangen hat und er findet den Ausschalter und schaltet das Bild weg.

      – Wir können es uns doch ansehen, sagt sie.

      Auf der einen Seite wäre er gerne alleine, um das Ganze zu sehen, jede Sekunde in sich aufzusaugen, die Tränen strömen lassen, mit sich selbst reden, die Worte auf der Sprache sagen, die er verlassen hat, die aber immer noch irgendwo in ihm lebt. Auf der anderen Seite will er sie nicht bitten, zu gehen. Er weiß nicht, wann er sie mal brauchen könnte. Wenn man alleine lebt, weiß man nie, wann man plötzlich einen anderen Menschen braucht, er macht sich nichts anderes vor, auch wenn er sein Bestes gibt, zu vermeiden, andere als sich selbst zu brauchen. Einen Schnaps kann er annehmen, es muss hart sein, immer alleine zu trinken und sie hat ihm nichts getan, sie ist nie etwas anderes als freundlich ihm gegenüber gewesen.

      Ihre Augen schwimmen als sie zum Sofa schwankt, aber ihre Hand ist sicher und verschüttet nicht einen Tropfen, als sie in die Gläser einschenkt. Die Bewegungen erinnern ihn an etwas, etwas Angenehmes, etwas, an das er sich erinnern will, aber erst als er mit ihr angestoßen hat und sie das erste Glas geleert haben und sie ah gesagt und mit der Zunge geschnalzt hat, wird das Bild deutlich, vom Marketender in dem Stück, das der Anfang von dem Ganzen war.

      Mutter Courage zapft Bier von einem Hahn am Wagen und der kleine Schlag mit der Hand gegen den Hahn erzählt die ganze Geschichte, von einer Person, die ohne überflüssige Gesten zurechtkommt, jemandem, der jede Situation perfekt unter Kontrolle hat. Während der Proben saß er im Dunkeln und verschlang sie mit den Augen. Die Rolle war sie, sie war die Rolle, aber es konnte nicht die Rede von irgendeinem Hineinversetzen sein, ihre Arbeit war gründlich wie die eines Wissenschaftlers, jede Geste, jeder Tonfall wurde auf eine Goldwaage gelegt und war es das, dem er erlag, war es nur Bewunderung? Er hatte darüber gegrübelt, ohne die Antwort zu finden, bis er sich entschied, es ruhen zu lassen.

      Die Frau auf dem Sofa neben ihm streckt die Hand nach der Flasche aus, die zu drei Vierteln voll ist. Alice heißt sie. Oder auch Annie, er ist sich nicht sicher. Es steht A. Madsen an der Tür und jetzt hat sie bereits noch einmal nachgeschenkt und wieder ist nichts verschüttet, die klare Flüssigkeit steht präzise bis zur Kante des Glases und es gelingt ihm nur mit Müh und Not, seins zum Mund zu führen, ohne dass es überschwappt. Ihr Trick ist, mit beiden Händen um das Glas zu greifen, aber nur mit den äußersten Fingerspitzen. Das sieht überlegen aus, raffiniert wie ein Taschenspielertrick, als sie die Flüssigkeit in den Mund kippt.

      Nach dem dritten Glas schwirrt ihm leicht der Kopf. Gewöhnlich trinkt er ein Bier, höchstens zwei. Auf Tournee trinkt er nach der Vorstellung zusammen mit den anderen Technikern eins. Nicht weil er Lust dazu hat, sondern weil es sonst so aussähe, als würde er vornehm tun. Ein paar von ihnen wissen, dass er Schauspieler war und die Sache mit den Schauspielern ist heikel. Schauspieler interessieren sich nur für sich selbst, so wird unter den einfachen Arbeitern geredet. Im Gegensatz zu ihnen stehen die Techniker Schulter an Schulter, eine eng zusammengeschweißte Gruppe, einer für alle, alle für einen und keiner ist mehr als ein anderer. Dass die Gruppe ihre eigene innere Hierarchie hat und dass man einander in Schach hält, ist eine andere Sache, aber sollte er es vorziehen, mit den Schauspielern ein Bier zu trinken oder einen kleinen Nachtimbiss zu essen, würde das relative Wohlwollen, das er genießt, durch Hänselei und Hohn ersetzt und warum sollte er sich dem aussetzen?

      Alice, oder ist es Annie, hat etwas gesagt. Nach fast dreißig Jahren hat er keine Probleme mit der Sprache, aber die Wörter bleiben schwebend in der Luft hängen und erreichen sein Gehirn nicht, sie hängen wie ein graubrauner Dunst vor seinen Augen. Bis sie sie wiederholt, einmal, zweimal, sie lacht und er sieht die braunfleckigen Zähne, das verhärmte Gesicht, die Lippen, über die sie die ganze Zeit leckt, sodass sie feucht glänzen und sie sagt etwas, aber er kann es nicht hören. Er sitzt in dem Gestank von altem und neuem Alkohol und schlechtem Parfüm und es heult in seinem Kopf, etwas heult da drinnen und übertönt alles andere, alle Gedanken, alle Wünsche.

      Jetzt gehst du wohl zurück.

      Sie hat die Hand auf seinen Oberschenkel gelegt, wie eine andere einst die Hand auf seinen Oberschenkel gelegt hatte. Es ist eine freundliche Geste, oder vielleicht auch eine Einladung und er will sie nicht beleidigen, er könnte sie mal brauchen, er braucht sie, genau jetzt braucht er sie, um etwas auf Abstand zu halten und er verbirgt sein Gesicht an ihrer Schulter und küsst ihren schlaffen Hals, seine Hände suchen ihre Brüste unter der genoppten Strickjacke, sie trägt keinen BH, stellt er fest und sie zieht sich und ihm die Hosen aus und hilft ihm in sich rein, in eine überraschende Hitze und der Körper macht das, was er soll, während der Verstand in einer Welt auf Hochtouren arbeitet, die nichts mit dem, was auf dem Sofa geschieht, zu tun hat, und er kann es nicht stoppen. Die Worte hallen in seinem Kopf wider, in allen Tonarten, in einem pumpenden, unerbittlichen Rhythmus.

      Jetzt gehst du wohl zurück.

      Als es überstanden ist und sie wieder nebeneinander sitzen, vollständig angezogen, auf dem Sofa, dessen Kissen etwas flacher geworden sind, aber nicht zu flach, dass man so tun kann, als wäre nichts gewesen und sie jedem seinen Schnaps aus der Flasche eingegossen hat, die nicht mehr beschlagen ist, und sie angestoßen haben und sie ihn mit etwas anlächelt, das man mit ein wenig gutem Willen ein schelmisches Lächeln nennen könnte, weiß er es.

      Der Weg ist vorgezeichnet, eine gerade Linie von jetzt bis damals. Was ihn dort erwartet, weiß er nicht. Nur, dass er es tun muss. Nicht jetzt. Wenn die Dinge zur Ruhe gekommen sind. Wenn der Tag kommt, da er keine Repressalien mehr fürchten muss, sagt er sich selbst und weiß, dass das eine schlechte Ausrede ist. Er könnte schon heute aufbrechen, hätte vor langer Zeit aufbrechen können, mit seiner neuen Staatsbürgerschaft, mit seinem dänischen Pass. Die Grenze ist in ihm selbst, es ist diese, die er übertreten muss, die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen vergessen und erinnern.

      Nicht jetzt. Ein anderes Mal.

      Er steht auf. Geht raus in das kleine Badezimmer, wo der Boden nach seinem Morgenbad immer noch nass ist. Jeden Morgen wischt er drüber und zieht die Fliesen mit dem Gummiabzieher ab, trotzdem wird es dort nie richtig trocken, bevor er wieder auf dem Weg ins Bett ist. Er pisst mit der Hand gegen die Wand gestützt, nicht weil er betrunken ist, sondern weil er sich kaum aufrechthalten kann.

      Im Wohnzimmer hat sie die Beine unter sich gezogen, sitzt in der Sofaecke, als gehörte sie dorthin, aber jetzt will er alleine sein. Sie hat die Gläser wieder gefüllt, sie wartet auf ihn und falls er sie verletzt, ist da nichts zu machen. Er bleibt am Ende des Sofas stehen und nimmt sein Glas, leert es in einem schnellen Zug, so als hätte man es eilig aus einem schlechten Restaurant zu kommen.

      – Danke für die Drinks, sagt er.

      Es dauert einen Moment, bis sie es versteht. Dann steht sie auf, sammelt die Flasche und das Glas umständlich ein, bekommt sein Glas in die Hand, als sie auf dem Weg zur Tür an ihm vorbeigeht. Ihr enttäuschtes Gesicht erschwert es, sie einfach gehen zu lassen und er legt eine Hand auf ihren Arm.

      – Danke für alles, sagt er.

      Er begleitet sie raus. Hört, wie die Tür zu ihrer Wohnung aufgeschlossen wird und den harten Knall, als sie hinter ihr zufällt und vielleicht hat er sie beleidigt. Oder vielleicht hat er auch nur das getan, was sie von Männern erwartet und das nächste Mal, wenn sie es braucht, wird sie ihn bitten, ihre Topfpflanzen zu gießen, wie das Natürlichste auf der Welt. Er hofft es. Oder er weiß nicht, was er tut.

      Es ist spät und unter normalen Umständen hätte er schon längst zu Abend gegessen, aber sein Magen, der bei der geringsten Ankündigung von Hunger in Alarmbereitschaft gerät, sendet keine

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