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Stille erfüllte die kleine Kammer, einzig durchbrochen von den leisen Atemgeräuschen und dem zarten Schmatzen des Kindes, das im Arm seiner Mutter lag. Diesem Moment wohnte immer etwas Heiliges inne.

      Der Anfang jeden Lebens gleicht einem Wunder, dachte Luzia. Um dieses Wunder zu ermöglichen, durchschreitet die Frau alle Tiefen der Unterwelt. Sie bezahlt mit ihrem Schmerz, einem Herzen voller Angst und ihrem Schweiß. Erst wenn sie dem Tod als Unterpfand ein kleines Stück ihrer Seele überlässt, darf sie die heilige Flamme des Lebens weiterreichen. So lautet der Handel. Das ist der Preis.

      2

      Luzia bückte sich nach den leuchtenden Ringelblumen, die neben vielen anderen Heilpflanzen, Gemüsen und Blumen in Elisabeths Garten wuchsen.

      »Calendula officinalis«, sagte sie und lächelte. Pater Wendelin bestand darauf, dass sie auch die lateinischen Namen aller Heilpflanzen kannte. Sie pflückte eine Handvoll Blütenköpfe und schüttelte dabei vorsichtig die Regentropfen der letzten Nacht ab. Sie würde aus den Blüten eine Salbe bereiten und etwas davon dem Pater bringen. Er litt unter offenen Beingeschwüren.

      Mit einem Korb voller Blüten betrat sie das kleine Fischerhaus von Jakob und Elisabeth. Die sanfte Kühle des dicken Gemäuers umfing sie angenehm und frisch. Wie die anderen Häuser in der Fischergasse war auch dieses aus weißen und in allen Grautönen schimmernden Flusssteinen errichtet. Das über die Jahre gedunkelte Fachwerk bildete einen lebhaften Kontrast zu den unbehauenen Steinen. Luzia ging in die Küche und legte die Blüten auf den Tisch. Sie öffnete die kleinen Fensterluken zur Seeseite hin und bemerkte Nepomuk, der ihr maunzend um die Röcke strich.

      »Dann hat’s mit der Jagd wohl nicht geklappt? Na komm!« Sie stellte dem Kater ein Schüsselchen Milch hin und streichelte ihm über das Fell. Im Anschluss schüttelte sie die braunen Schaffelle aus, die auf den Bänken lagen, und rückte Holztisch und Sitzbänke zurecht. Im großen gemauerten Herd brannte schon ein Feuer für die Morgensuppe. Und bald kochte in dem verbeulten Eisenkessel ein dicker Dinkelbrei. Nur ihre Tante ließ noch auf sich warten. Sicher jätete sie noch das Unkraut unter den Essigrosen, denn noch war es nicht so unerträglich heiß, doch die Vorboten der Hitze waren schon jetzt spürbar. Nach dem Gewitter und den sintflutartigen Regengüssen der letzten Nacht würde es ein schwüler, drückender Tag werden. Dabei begannen die Hundstage erst in vier Wochen. Heute war schließlich erst der 21. Tag des Weidemonats im Jahre 1483. Heute war Sommersonnwende.

      Luzia beeilte sich, denn sie hatte an diesem Tag noch viel zu tun. Sie machte einen kurzen Wochenbettbesuch in der Kreuzgasse und freute sich, dass die Wöchnerin wohlauf war. Dann sah sie bei der Schäferin vorbei, die ihr drittes Kind erwartete.

      »Ein Kind zu Sonnwend. Das wäre schön«, sagte die junge Frau.

      »Freu dich nicht zu früh!«, entgegnete Luzia lächelnd und hoffte, sie möge Recht behalten. Wie alle jungen Frauen und Männer wollte auch sie die kürzeste Nacht des Jahres feiern. »Ich glaube nicht, dass dein Kind schon heute kommt«, sagte sie, nachdem sie den Bauch abgetastet hatte. »Lass ihm nur noch ein wenig Zeit und ruh dich aus. Ich sehe morgen wieder nach dir.«

      Sie ermahnte die beiden Töchter der Schäferin, gut auf ihre Mutter zu achten, dann machte sie sich auf den Weg den Hügel hinauf, der zusammen mit dem Wald und den Feldern Seefelden umschloss. Am Hang des Hügels fing sich die Sonne, hier wuchsen die besten Kräuter. Heilpflanzen, die zur Sommersonnwende gepflückt wurden, hatten besondere Kräfte. Jetzt musste gesammelt werden, was das Jahr über gebraucht wurde. Selbstverständlich waren die Kräuter für die Hebammentasche schon beisammen und zum Trocknen aufgehängt. Aber ihren eigenen Kräuterbuschen wollte Luzia unbedingt noch pflücken.

      Sie lief den kleinen Berg hinauf und genoss den atemberaubenden Blick über das tiefblaue Wasser des Sees, der unter ihr lag. Vereinzelt tanzten ein paar Wellen auf der glatten Oberfläche. Im Osten erhoben sich riesige Berge. Viele von ihnen waren schneebedeckt. Auf den weißen Gipfeln der Eisriesen dauerte der Winter das ganze Jahr.

      »Wie weit die Sicht von dort oben wohl sein mag?«, fragte sie Nepomuk, der sie wie immer begleitete. Doch der Kater beachtete sie nicht. Mit zuckendem Schwanz pirschte er sich an einen Kohlweißling heran. Er machte einen Satz auf das Insekt zu, verfehlte es aber und setzte dem davonfliegenden Tier in ausgelassenen Sprüngen nach. Luzia lachte still in sich hinein und bückte sich nach den ersten Johanniskräutern. Quendel und Kamille wuchsen hier im Überfluss. Den Beifuß, eines der wichtigsten Sonnwendkräuter, ließ sie stehen, er wuchs bei ihr zu Hause. Die Ringelblume ebenfalls. Nach Eisenkraut und Schafgarbe musste sie länger suchen.

      Als ihr Arm nicht mehr Zweige fassen konnte, rief sie Nepomuk und machte sich auf den Heimweg.

      Sie ging direkt in den Garten, weil sie dem heilbringenden Strauß noch eine große, gelbe Königskerze in die Mitte stellen wollte. Elisabeth stand neben der Kuhschelle und zupfte vorsichtig die blauen Blütenblätter ab.

      »Luzia, da bist du ja«, rief Elisabeth und säuberte ihre mit Erde bedeckten Hände an der Schürze. »Pater Wendelin hat nach dir geschickt. Er klang sehr aufgeregt. Wie es scheint, haben ihm die Mönche des Klosters Reichenau ein paar neue Pflanzen geschickt und du sollst ihm beim Einsetzen helfen.«

      »Dann wurde seine Geduld ja endlich belohnt«, entgegnete Luzia und legte die bunten Sonnwendkräuter auf die kleine Bank neben der Haustür. »Er wartet schon seit Tagen auf die Setzlinge, denn eigentlich ist die Pflanzzeit schon längst vorüber.«

      Elisabeth lachte. »Wenn ich mich nicht täusche, bist auch du begierig auf die Schätze von der Reichenau«, neckte sie.

      »Du weißt doch, wie gerne ich selbst einmal durch den Klostergarten des Walahfrid Strabo gehen würde.«

      Elisabeth hoffte, dass Luzia einmal die Gelegenheit bekommen würde. Doch bei der Abtei handelte es sich nun einmal um ein reines Männerkonvent. Besucher waren zwar willkommen, ihnen gestattete der Abt auch die Messe zu besuchen und die Besucherräume zu betreten. Doch der Garten blieb ihnen verschlossen.

      »Na dann geh schon und lass den Pater nicht mehr länger warten!«

      Luzia nickte. »Sobald ich die Kräuter für die Sonnwendfeier versorgt habe.«

      Elisabeth sah ihrer Nichte nach, als sie den bunten Strauß ins Haus trug. Sie dankte Gott für jeden Tag, den Luzia bei ihr und ihrem Mann wohnte. Luzia war ihr wie eine Tochter. Die einzige Tochter und ihr einziges Kind. Luzia war für Jakob und sie ein Geschenk des Himmels. Wenn sie an die Zeit seit jenem heißen Tag des Erntemonats vor sieben Jahren zurückdachte, konnte sie sich nur an Gutes erinnern. Anna, ihre engherzige Schwester, hatte die damals Dreizehnjährige von Ravensburg zu ihnen nach Seefelden gebracht. Als uneheliches Kind aus einer flüchtigen Nacht geboren, war Luzia ihrer Mutter vom ersten Tag an eher eine Last als eine Freude gewesen. Anna und Luzia waren wie Feuer und Wasser, daran hatte sich bis heute nichts geändert. Anna war froh, Luzia weit weg bei ihrer Schwester zu wissen. Wenn Elisabeth nur daran dachte, wie verdreckt und geschunden das Mädchen damals bei ihnen angekommen war. Doch in ihrem Hause war sie aufgeblüht. Wie eine Blume ihr Gesicht nach der Sonne dreht und gedeiht, so war Luzia in der Wärme und Fürsorge von Elisabeth und Jakobs Haus gediehen.

      Schon als sie noch in Ravensburg gelebt hatte, war Elisabeth der kleinen Luzia nahe gewesen. Fremde hielten sie oft für Mutter und Tochter. Besaßen sie doch beide jenes rote, wilde Haar, welches sich nur mühsam bändigen ließ. Ebenso blickten beide aus wachen, fast veilchenblauen Augen immer eine Spur zu neugierig in die Welt. Selbst die weiblichen Formen schien Luzia sehr viel eher von ihrer Tante zu haben als von ihrer Mutter. Beide umgab eine sinnliche Aura der Warmherzigkeit und des Mitgefühls.

      Als die Glocke von St. Martin zur Vesper läutete, rannte Luzia wie der Wind durch die Fischergasse zum Kirchplatz.

      Sie betrat das kleine Pfarrhaus, und Pater Wendelin erhob sich von seinem Platz am Schreibtisch.

      »Luzia, wie schön, dass du so schnell kommen konntest«, sagte Wendelin freudig. »Nun lassen wir die Bücher erst einmal liegen und wenden uns Wichtigerem zu!«

      Luzia nickte und folgte dem Pater durch die kleine Schreibstube.

      »Hier

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