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dem vergeblichen Versuch, den Schmerz zu ersticken, die Luft anhielt.

      Luzia nickte ihr zu, ihre Hände, die immer noch kalt und steif waren, fanden ihren Weg zu Selmas Bauch. Behutsam legte die Wehmutter ihre Handflächen auf die heiße, zum Bersten gespannte Haut. Sie spürte den kühlen Schauer, der die Gebärende durchlief. Mit einem Ausatmen lehnte Anselma sich zurück in das Kissen, ihre Anspannung ließ leicht nach. Luzias Hände lagen immer noch auf Selmas Bauch, und nun setzte ein wohliges Kribbeln unter ihren Händen ein. Während Anselmas Schmerz durch ihren eigenen Leib strömte, schloss die junge Wehmutter die Augen. Bald löste sich die Gebärende aus dem eisernen Griff der Angst.

      Luzia sah Anselmas fragenden Blick. Was war da gerade mit ihr geschehen?, fragte dieser Blick. Und woher kam das helle Glitzern in den Augen der Hebamme? Luzia spürte, dass Anselmas Schmerz erträglicher wurde, und schöpfte neuen Mut.

      Jetzt durfte Luzia keine weitere Zeit mehr verlieren. Ihre kundigen Finger tasteten behutsam und fest zugleich. Stück für Stück wanderten sie über Anselmas Bauch. Wo die Wehmutter die kleinen Füße des Kindes spüren sollte, befand sich der lange, fast ausgestreckte Rücken. Während sich der, Kopf auf der rechten Bauchseite der werdenden Mutter abzeichnete, befanden sich die Füße links. Das Kind lag falsch! Aus dieser Lage konnte es niemals geboren werden. Solange das Kleine quer im Mutterleib lag, waren die Wehen wirkungslos. Einzig eine Drehung konnte bewirken, dass sie ihren Zweck erfüllten und dem Kind ans Licht der Welt halfen. So brachten sie Anselma nur sinnlose Qualen. Wenn jetzt nichts geschah, würden die Wehen bald schwächer werden und dann würden sie wirklich Pater Wendelin brauchen. Luzia spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat.

      »Große Mutter, steh uns bei! Ich bitte dich, hilf mir und führe meine Hände«, betete Luzia stumm.

      Sie erschrak, als sie die tanzenden Schatten an der Wand entdeckte. Schwarz und unheimlich krochen sie immer näher. Luzia meinte, sie kichern zu hören.

      Entschlossen rief sie nach der alten Wachterin und reichte ihr ein kleines, prall gefülltes Flachsbeutelchen. »Das ist Beifußkraut. Bereitet daraus einen sehr starken Aufguss, rasch! Wenn Ihr etwas weißen Wein im Haus habt, wäre das noch besser als Wasser.«

      Das schwere, erdige Aroma des Beifußes breitete sich schnell in der niedrigen Kammer aus. Flink warf die Hebamme ein paar Samen des Bilsenkrauts in den dampfenden Becher und gab ihn Anselma zu trinken. Bilsenkraut nahm den Schmerz und entführte den Geist in selige Welten. Zuviel davon brachte allerdings den Tod! Als sie sicher sein konnte, dass die leicht berauschende Wirkung Selma beruhigt hatte und ihr weher Leib betäubt war, fettete Luzia ihre Hände mit Schweineschmalz. Vorsichtig, ganz behutsam glitten ihre Hände in Anselmas Leib. Die Wehen hatten dafür gesorgt, dass sich die Geburtswege unter Luzias Händen weich und weit anfühlten. Dank des Bilsenkrauts verspürte Anselma nur ein leichtes Ziehen im Leib. Obwohl sie ahnte, was die Hebamme tat, dass ihre Hände sich an einem Ort befanden, den nicht einmal sie selbst berührte, lag Anselma völlig still.

      Luzia wollte versuchen das Kind im Mutterleib zu drehen. Sie fühlte den kleinen, festen Kopf, einen kleinen Arm und ein angezogenes Beinchen. Schweiß floss ihr in einem dünnen Rinnsal von der Stirn, den Hals entlang und sammelte sich zwischen ihren Brüsten. Ein paar Strähnen ihres roten Haares klebten feucht an ihren Schläfen. Der kupferartige Geruch von Blut stieg ihr in die Nase. Luzia griff nach dem Köpfchen, um es nach unten zu drehen. Gleichzeitig versuchte sie den winzigen Körper dazu zu bringen nach oben zu gleiten. Doch immer wenn sie glaubte, jetzt könnte es ihr gelingen, drehte sich das Kind zur Seite. Ähnlich einem kleinen Fisch entglitt ihr das Ungeborene wieder und wieder. Wenn sich das kleine, aalglatte Körperchen einen Zentimeter bewegen ließ, rutschte es im nächsten Augenblick wieder in seine ursprüngliche Lage zurück. Luzia wusste, dass allmählich die Zeit knapp wurde. Anselma wurde zunehmend unruhig, denn die Wirkung des Bilsenkrautes ließ schon wieder nach. Allzu oft durften ihre Versuche jetzt nicht mehr misslingen. Aus den Augenwinkeln sah Luzia, wie die finsteren Schatten über die Wände leckten und sie verhöhnten. »Bist eine dumme Gans«, geiferten sie im Chor.

      Als sie erneut den kleinen Kopf nach unten drehen wollte, spürte sie, dass die Nabelschnur um den Hals des Kindes lag. Das Kind würde sterben, wenn es nicht bereits tot war. Welch eine Ironie, wenn die pulsierende Lebensader gleichzeitig den Tod brachte. Ihr schwand der Mut.

      »Großer Gott, hilf uns! Du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen.« In einem letzten Versuch gelang es ihr, einen Finger zwischen den winzigen Hals des Ungeborenen und die todbringende Schlinge zu bringen.

      Luzias Mund fühlte sich an, als habe sie Sand gegessen. Als sie auf ihre Unterlippe biss, schmeckte sie warmes Blut auf ihrer Zunge. Es verursachte ihr fast Übelkeit. Doch nun spürte sie auch das Pulsieren der Nabelschnur. Das Kind lebte!

      Jetzt zählte jeder Augenblick. Jeder hoffnungsvolle Atemzug. Jeder wertvolle Herzschlag. Hinter ihr leierten die alte Wachterin, Irmtraut und Sieglinde ihre Gebete herunter: »Ave Maria, gratia plena … Sancta Maria, Mater Dei …« Luzia spürte ihre Blicke auf sich ruhen. Auch ihnen war nicht entgangen, dass die Zeit verran.

      »Gib nicht auf, du bist auf dem rechten Weg!«

      Luzia hob ruckartig den Kopf und sah auf die Feuerstelle. Das Flüstern war aus den Flammen gekommen. Ein kaum sichtbares Lächeln umspielte ihren Mund.

      Jetzt suchte sie nach dem Augenblick. Der winzigen Lücke in den mächtigen Speichen im Rad der Zeit, in welche sie mit Gottes Hilfe den Stab des Schicksals senken konnte. Nur einen Atemzug. Und noch einen. Die Minuten verrannen. Und da, endlich vermochten Luzias Finger das Kleine zu greifen und es schließlich im Bauch der Mutter zu drehen, wobei sie die Nabelschnur über den Kopf des Kindes gleiten ließ, damit sie keinen Schaden mehr anrichten konnte.

      Dann ging alles sehr schnell, und nach drei weiteren Wehen, die Selma zwar Schmerzen bereiteten, sie aber nicht in die tiefsten Abgründe rissen, gebar sie ihr Kind aus eigener Kraft. Luzia nahm das Kleine in Empfang.

      »Da haben wir ja den neuen Erdenbürger!« Triumphierend hielt die Wehmutter das neugeborene Menschlein, das sich mit kräftiger Stimme über die kalte, ungewohnte Umgebung beklagte, in die Höhe. So konnte auch Selma einen ersten Blick auf ihr Kind werfen. Als sie sah, dass sie einen Jungen geboren hatte, fiel die Erleichterung noch um einiges größer aus. »Ein Bub, es ist ein Bub!«, rief sie erleichtert.

      Selbst die alte Wachterin, deren schlohweißes Haar ihr mittlerweile in wilden Büscheln um den Kopf stand, schien mit dem Ausgang der Geburt sehr zufrieden. Mit einer Regung, welche einem Lächeln schon sehr nahe kam, segnete sie die junge Mutter und das Neugeborene, indem sie beiden ihre Hand auf die Stirn legte.

      Mit sanften Berührungen umfingen Luzias Hände den rosigen, kleinen Körper und hoben ihn in sein erstes Bad. Zart strichen ihre Finger über die kleinen Augen, die noch geschlossen waren. Zufrieden entspannte sich das Neugeborene von seiner langen Reise.

      »Du bist wunderschön«, flüsterte Luzia.

      Der Knabe öffnete seine tiefblauen Augen und schaute sie an, als verstehe er jedes Wort.

      Luzia wickelte das Kind in Leinen, ehe sie es Anselma in die Arme legte. Im Anschluss warf sie mit sicherer Hand trockenes Holunderholz in die glimmenden Kohlen des Wärmebeckens. Eine kleine Flamme entstob den rot glühenden Kohlen. Ganz offensichtlich betrachtete Perchta ihr Opfer mit Wohlwollen. »Weise Mutter, ich danke dir für dein unerschöpfliches Wissen. Nimm das heilige Holz des Holunders und behüte Mutter und Kind. Schütze sie vor allem, was ihnen Böses will.«

      Inzwischen brachte die Altmutter den frischen Schilfgrassack. Traditionell wurden ihm die Kräuter des Frauenbündels beigemischt. In der Regel handelte es sich um Labkraut, Quendel, Leinkraut, Dost, Weidenröschen, Kamille, Gundelrebe, Frauenmantel und Johanniskraut, die von den Frauen zwischen Sommersonnwende und den Hundstagen gesammelt wurden. Auf diese Weise hielt die große Mutter durch ihre heiligen Schätze ihre schützende Hand über die Wöchnerin und ihr Neugeborenes. Die wertvollen Heilpflanzen bewahrten Mutter und Kind auch vor den Druden. Vor den unheimlichen Nachtmahren fürchtete sich jeder. Sie krochen durch Schlüssellöcher und Fensterritzen, um die ungeschützten Menschenseelen zu entführen oder gegen ein Feenkind auszutauschen.

      Luzia

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