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am 21. Dezember und dem Epiphaniastag am 6. Januar ja auch. Seit jeher galten die Tage zwischen den Jahren als verwunschene Zeit. Nie war der Schleier zwischen den Welten dünner. Die Geister der Toten trieben in diesen Nächten ihr Unwesen. Im tobenden Sturm, aber auch in den dicken Nebelschwaden, die in den Herbst- und Wintermonaten den Bodensee oft tagelang unsichtbar werden ließen, fürchtete man die Grenze zu überschreiten. Die Grenze zur Anderswelt, die Schwelle zum Jenseits.

      Stuben und Ställe wurden um diese Zeit mit einer Mischung aus Wacholderholz und getrockneten Holunderblüten geräuchert. Das heilige Holz der Perchta, die den Leuten vom See neben dem christlichen Glauben heilig war, reinigte die Wohnstätten von Mensch und Tier. Ebenso die Wege und Pfade der Umgebung. Die umherirrenden Seelen derer, die ungetauft gestorben waren, konnten im heiligen Rauch Perchtas endlich ihre Ruhe finden.

      Nach altem Glauben besaßen Kinder, die in dieser Zeit zur Welt kamen, oft das Zweite Gesicht. Ihnen wurde nachgesagt, sie könnten Geister und Dämonen sehen.

      Auch wenn Sturm und Schnee unheimlich waren, glaubte Luzia nicht, dass sie den Hergang der Geburt beeinflussen würden. Sie trug jede Niederkunft auf einem Pergament ein. Pater Wendelin gab ihr jedes Jahr einige Bögen davon und ermutigte sie, jeden Tag ein paar Zeilen zu schreiben.

      Durch ihre Aufzeichnungen wusste die Hebamme, dass die allermeisten Kinder um den vollen Mond zur Welt kamen und dass im Winter weit mehr Kinder starben als im Sommer. Aber zur Zeit der Rauhnächte war es noch nie zu einer Häufung der Todesfälle gekommen.

      In den Jahren ihrer Hebammentätigkeit hatte Luzia schon Schlimmes erlebt. Auch dieser Entbindung begegnete sie mit größtem Respekt, doch Jammern hatte noch nie geholfen. Ehe Irmtraud also ihrer Angst noch mehr Futter geben konnte, berührte Luzia sanft den Arm der aufgebrachten Frau. Schon als Kind konnte sie allein durch eine Berührung die Gefühle und Gedanken ihrer Mitmenschen miterleben. Wellen der Trauer oder des Schmerzes brandeten bisweilen an die Ufer ihrer Seele. Manchmal fluteten sie Luzias Herz und zogen es in die Tiefe. Hass und übelwollende Gedanken brachten sie oft an die Grenzen des Ertragbaren. Dann glaubte sie selbst in Flammen zu stehen, so weh taten ihr die fremden Empfindungen. Im Kindesalter hatte Luzia auch gemerkt, dass ihre Hände Schmerz lindern und Trost spenden konnten. Gefürchtet hatte sie sich erst, als während ihres Heranwachsens auch andere Sinne die Hellsichtigkeit ihrer Hände erlangten. Ein Leben lang würde sie sich daran erinnern, als sie Azrael das erste Mal gesehen hatte. Seither begegnete sie dem dunklen Engel immer, wenn er die Seele eines Sterbenden heimbrachte. Die Mutter, der sich Luzia aus Angst anvertraut hatte, war dem »Teufelszeug« und der Andersartigkeit ihrer Tochter nicht gewachsen gewesen. Sie hatte den »Fluch ihrer Hände« immer ihrem Starrsinn zugeschrieben und war ihm mit der Rute begegnet. Erst Elisabeth hatte sie gelehrt, dass der »Fluch« ein einzigartiges Geschenk sei. Ein Segen aus der Hand Gottes.

      »Nun mal ganz langsam!«, sagte Luzia und verstärkte leicht den Druck auf Irmtrauds Arm, um sie zu beruhigen. »Ich glaube, es ist das Beste, wenn du mich jetzt gleich zur Korbmacherin bringst. Erst wenn ich Anselma selbst gesehen habe, kann ich mir ein Bild vom Stand der Geburt machen.«

      Irmtraud nickte abwesend, sie spürte ein ungewohntes Kribbeln auf ihrem Oberarm. Mit einem Mal fühlte sie sich sehr viel ruhiger, und ihr Gefühl sagte ihr, dass sie Luzia vertrauen konnte. Während sich ihre Angst löste, verloren Unwetter und Rauhnächte etwas von ihrem Schrecken.

      »Ja, natürlich, aus diesem Grund bist du ja hier! Mit deiner Unterstützung wird es schon gutgehen«, sagte Irmtraud und forderte Luzia auf, ihr in die Kammer gegenüber der Eingangstür zu folgen.

      Beim Eintreten in die kleine Kammer der Korbmacherin wallte Luzia eine Schwade abgestandener Luft entgegen. Sie roch den scharfen Dunst von Schweiß und von Blut. Mehrere Kohlebecken wärmten den niedrigen Raum. Wände und Decke der kleinen Stube waren schwarz vom vielen Lampenruß. Die einzige Lichtquelle war ein Feuer im offenen Kamin.

      »Gott zum Gruße, alle miteinander.« Luzias Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Unter ihren Füßen spürte sie die Binsen, die den unebenen Boden bedeckten. Gegenüber der Tür standen dreibeinige Schemel, die man dort für die Nachbarsfrauen und die Altmutter aufgestellt hatte. Eine Geburt war kein einsames Ereignis.

      Luzias Blick flog zur Bettstatt aus hellem Fichtenholz, das rechts an der Wand stand. Dort lag Anselma, deren Darm sich in diesem Augenblick geräuschvoll entleerte. Die andere der beiden Nachbarsfrauen, Sieglinde, die Frau des Flickschneiders, zog das schmutzige Laken unter dem Körper der Gebärenden weg. Sie verzog das Gesicht vor Ekel und Angst und verließ rasch die Kammer. Irmtraud nahm auf einem der Schemel Platz und machte sich daran, das Ave Maria zu beten. Die alte Wachterin, die Schwiegermutter der Gebärenden, ließ ein mürrisches Murmeln hören:

      »Wird auch Zeit, dass du endlich da bist! Hat lang genug gedauert!«

      Luzia nickte ihr nur kurz zu und trat an das Bett heran.

      Anselma Wachter lag völlig erschöpft auf dem mit Schilf und getrocknetem Seegras gefüllten Sack, der ihr als Matratze diente. Von der großen Anstrengung war ihr Gesicht verquollen und rot. Die helfenden Frauen hatten bereits vorsorglich Anselmas langes Haar gelöst, wie es Brauch war. Sie hofften, so die gefürchteten Knoten in der Nabelschnur abzuwenden. Feucht und schwer klebten die goldblonden Strähnen der jungen Korbmacherin an ihren Schläfen.

      »Die Selma stöhnt und jammert, als ob sie die einzige Frau auf dieser Erde wäre, die jemals ein Kind bekommen hat!«, meldete sich die Wachterin hinter Luzias Rücken zu Wort.

      »Vergesst nicht, für sie ist es das erste Mal«, antwortete sie.

      »Die soll sich nicht so anstellen«, murrte die alte Frau weiter. »Glaub mir, ich selbst habe fünf Kinder geboren. Auch Selma wird es überleben.«

      »Dann wisst Ihr ja sicher auch, dass jede Geburt ein bisschen anders verläuft.« Luzia wurde zunehmend ungeduldig. Wie sollte sie der Korbmacherin helfen, wenn ihr ständig jemand dreinredete?

      Sie beugte sich über die junge Frau. »Anselma, du wirst sehen, alles wird gut!«, versprach Luzia so selbstsicher, wie es ihr möglich war. Die junge Wachterin nickte schwach. Luzia hoffte im Stillen, dass wirklich alles gut werden und das Gefühl, das sich ihr aufdrängte, seit sie die Kammer betreten hatte, wieder weichen würde. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht schneller gekommen war und durch das Gespräch mit Matthias vielleicht lebenswichtige Zeit verloren hatte.

      »Nun, was sagst du?« Mit diesen Worten packte die Altmutter Luzias Arm. Ohne es verhindern zu können, schoss eine gewaltige Welle Ungeduld und Furcht durch Luzias Leib.

      »So habt doch Geduld und lasst mich meine Arbeit tun!«, gab Luzia zurück. Sie hatte Mühe, die Ruhe zu bewahren.

      Die Wachterin wagte nicht, ihr zu widersprechen. Mit lauten Schritten stampfte sie zur Tür hinaus.

      Mit jeder neuen Wehe, die über ihren Körper hinwegrollte, schrie die junge Korbmacherin laut auf und krallte die Finger in den Strohsack. »Das hier ist die Hölle«, stöhnte Anselma zwischen zwei Wehen.

      Hinter sich hörte Luzia, wie Irmtraud und Sieglinde laut beteten, ansonsten rührten sie sich nicht von der Stelle. Luzia wusste, jetzt musste schnell etwas geschehen, sonst würden die Klageweiber die werdende Mutter mit sich in die Tiefe ziehen.

      »Zuerst brauche ich mehr Licht. So kann ich beim besten Willen nichts sehen!«

      Irmtraud sprang auf und eilte hinaus.

      »Und du bringst mir heißes Wasser und ein Leinen«, scheuchte Luzia die magere Frau des Flickschneiders auf.

      Auf Sieglindes Gesicht machte sich Erleichterung breit. Sie war froh, eine Aufgabe zu haben und das Zimmer verlassen zu können.

      »Luzia, ich bitte dich, so hilf mir doch! Ich glaube nicht, dass ich den Sonnenaufgang noch erleben werde«, flehte die werdende Mutter mit leiser Stimme, dabei wirkte sie so müde und kraftlos, dass Luzia sich ernsthafte Sorgen machte. Anselmas Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Unheilvoll kündigte sich bereits die nächste Wehe an. Irmtraud kam mit zwei Talglichtern ans Bett, und Luzia konnte besser sehen, wohin ihre Hände griffen.

      »Ich

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