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Es war bereits Ende September gewesen, Spätsommer. Bei einer Überlandfahrt hatten sie ein Sonnenblumenfeld passiert, das man vergessen hatte zu ernten. Unwillkürlich hatte er »Stopp!« gerufen und Mütze war in die Bremsen getreten. Was für ein unsäglich trauriger Anblick war das gewesen! Alle Sonnenblumen, vom Sommer verbrannt und vertrocknet, hatten ihre schwarzen Köpfe hängen lassen, alle in die gleiche Himmelsrichtung. Wie Gefangene, die auf ihre Hinrichtung warten, war es Karl-Dieter durch den Kopf geschossen. Schnell hatte er ein Foto gemacht, dann waren sie weitergefahren. Dieses Bild hatte in ihm weitergewirkt, nun hatte er versucht, es auf der Bühne nachzubauen: Les Fleurs du Mal.

      Karl-Dieter holte das Müsli aus dem Kühlschrank. Wie üblich hatte er es über Nacht quellen lassen, er liebte die schmeichelnd-weiche Konsistenz der Haferflocken. Ein paar frische Früchte darüber, ein paar Körner aus dem Reformhaus und das Frühstück war perfekt. Mütze durfte er nicht mit Müsli kommen. Mütze freute sich auf seine immer gleiche Audi-Schnitte, ein Toast mit vier Scheiben Aldi-Salami, die wie die Audi-Ringe übereinanderlappten. Mütze war und blieb eben ein Prolet, dachte Karl-Dieter, als er mit spitzen Fingern nach der Wurst griff. Man ist, was man isst, hatte er mit Ludwig Feuerbach einmal kritisch anzumerken gewagt, worauf Mütze spöttisch gefragt hatte, ob Karl-Dieter gern ein aufgequollenes Müsli wäre. So foppten sie sich gelegentlich, im Grunde aber waren sie noch immer ein Superteam, fand Karl-Dieter, meistens jedenfalls, solange er das Babythema ausklammerte. Ohne gewisse Kompromisse konnte keine Beziehung funktionieren. Was hätte er zum Beispiel drum gegeben, beim Frühstück seinen rosaroten Seidenmorgenmantel zu tragen, das geile Teil mit den weißen Spitzen am Kragen. Das hatte überhaupt nichts mit tuntig zu tun, der Fummel war einfach nur schick. Einen ähnlichen Morgenmantel hatte Heidi Klum während ihrer letzten Flitterwochen getragen, und wer verstand mehr von Mode? Mütze und seine antiquierten Ansichten. War es etwa geschmackvoller, in den immer gleichen Shorts und dem immer gleichen schwarzen T-Shirt am Frühstückstisch herumzulümmeln?

      Zischend verkündete die Kaffeemaschine, dass sie ihren Job getan hatte. Wo Mütze nur blieb? Mit leichter Besorgnis sah Karl-Dieter zum Fenster hinaus. Die morgendliche Joggingrunde musste doch längst zu Ende sein. Im selben Moment sah er den Freund um die Ecke biegen, mit leichtem Schritt, die Bäckertüte in der Hand. Kein Morgen verging, an dem Mütze ihm beim Joggen nicht eine Nussecke besorgte. Gerührt und erleichtert fischte Karl-Dieter noch rasch eine Essiggurke aus dem Glas, schnitt aus dieser eine dünne Scheibe heraus und aus der Gurkenscheibe wiederum ein Herzchen, das er liebevoll auf die Audi-Ringe legte. Jetzt war das Frühstück perfekt!

      Mütze hatte gerade krachend in den Toast gebissen, als sein Handy fröhlich zu musizieren begann.

      »Braunkärsch, was gibt’s? … Wie bitte, was sagst du? … Du weißt, von wem der Schlüssel stammt? Mensch, super! Magst du nicht vorbeikommen und es mir verraten? … Nein, du störst überhaupt nicht«, sagte Mütze schmatzend und blinzelte Karl-Dieter zu, »bekommst sogar noch was vom Frühstück ab.«

      Karl-Dieter hatte nichts dagegen. Bei jedem anderen vielleicht, aber nicht bei Thomas. Er redete ihn immer bei seinem Vornamen an und nie mit seinem Spitznamen. Braunkärsch! Wie blöd klang das denn! Man durfte doch einen Menschen nicht wie ein Gemüse nennen. »Wieso nicht?«, hatte Mütze fröhlich geantwortet. »Was hältst du davon, wenn ich künftig ›mein süßes Blumenkohlröschen‹ zu dir sage, klingt das nicht reizend?« Gleich in seiner ersten Erfurtwoche hatte Mütze ihm seinen neuen Kollegen vorgestellt und Karl-Dieter war ihm dankbar dafür gewesen. Wenn man in eine neue Stadt kam, was gab es da Wichtigeres, als neue Freunde zu finden? Und Thomas war wirklich ein feiner Kerl, auf Anhieb hatte er sich mit ihm verstanden. Karl-Dieter ist es auch gewesen, der Thomas ermuntert hatte, es bei Tinder zu versuchen. »Geht ganz einfach, sollst sehen!« Der Kommissar hatte zunächst skeptisch das Gesicht verzogen. Liebe übers Internet, wo bliebe denn da die Romantik? »Die kommt eben später«, hatte Karl-Dieter gesagt und sich zu ihm aufs Sofa gesetzt. »Komm, Thomas, lass uns einfach mal anfangen.«

      Es war doch nicht normal, dass ein Mann Mitte 40 allein durchs Leben lief. Und nach drei Jahren konnte man auch nicht mehr von Trauerarbeit sprechen, dann lief man nur Gefahr, ein Hagestolz zu werden. Thomas hatte vergeblich versucht, ihm zu erklären, warum die Beziehung zu Sylvia in die Brüche gegangen war. Wie hätte er das auch anstellen können, verstand er es doch selber nicht. Und so hatte es auch Karl-Dieter nicht verstehen können, musste er ja auch nicht. Was er aber verstand, war, dass Thomas dringend eine neue Freundin brauchte. Manche Dinge durfte man einfach nicht auf die lange Bank schieben, man verhärtete innerlich und alles wurde nur umso schwieriger. Auch begann man, sich gewisse Macken zuzulegen, man wurde unflexibler im Umgang mit anderen, vielleicht auch unwilliger, Kompromisse einzugehen, eine gefährliche Entwicklung, weil sie sich schleichend vollzog, sodass der Betroffene sie leicht übersehen konnte.

      Rasch stand Karl-Dieter auf und entschuldigte sich. Es wäre ihm peinlich, Thomas im Morgenmantel zu begrüßen. So ging er in die Ankleide, um sich etwas Vernünftiges überzuziehen. Auf seine Ankleide würde er niemals mehr verzichten. In Erfurt hatten sie sich zum ersten Mal den Luxus eines begehbaren Kleiderschranks gegönnt, das heißt, natürlich war es Karl-Dieters Idee gewesen, Mütze zog seine sieben Sachen weiter aus der alten Kommode, einem Erbstück von Tante Dörte. Seit einiger Zeit war es Karl-Dieter lieber, wenn ihm niemand beim Anziehen zusah. Ob das eine Frage des Alters war? »Auch Tiere gehen zum Sterben gerne in die Einsamkeit«, hatte Mütze trocken bemerkt. Manchmal konnte man ihn glatt gegen die Wand donnern!

      Vom Dom war es nicht weit zu ihrer Wohnung im Brühl. Nichts war wirklich weit in Erfurt. Im Grunde kam man prima ohne Auto aus. Aber klar, ein Kommissar konnte schlecht zu Fuß durch die Stadt schlurfen. Erstens musste er immer damit rechnen, einen Ganoven verfolgen zu müssen, und zweitens und überhaupt: Wie sah denn das aus? Braunkärsch stellte seinen Moskwitsch 412, »das robusteste Auto der Welt«, wie er gerne behauptete, mitten in die schönste Anwohnerparkzone. Das waren die kleinen Vorteile eines Bullenlebens, zumindest brauchte man sich nie wieder Parkplatzsorgen zu machen.

      Als Braunkärsch klingelte, stand ein drittes Gedeck schon bereit. Braunkärsch behauptete zwar, bereits gefrühstückt zu haben, bediente sich aber kräftig am Rührei, das Karl-Dieter noch auf die Schnelle gezaubert hatte. Der Kollege behauptete, es sei das beste Rührei, das er je gegessen habe, ein Kompliment, das Karl-Dieter natürlich freute. Er gab immer einen Schuss frische Milch hinzu und auch eine kleine Prise Puderzucker, so wie er es beim Erlanger Hausfrauenbund gelernt hatte. Und, klar, etwas frischer Schnittlauch gehörte auch darüber gestreut, Brunnenkresse hätte er in diesem Fall noch lieber genommen, nur hatte er leider gerade keine im Gemüsefach.

      »Nun aber raus mit der Sprache, Braunkärsch, wer vermisst seinen Schlüssel?« Mütze konnte seine Neugier nicht länger verbergen.

      »Monsignore van Ackeren.«

      »Wer, zum Teufel?«

      »Mütze!« Karl-Dieter legte tadelnd die Stirn in Falten.

      »Einer der Domgeistlichen«, sagte Braunkärsch rasch. »Ich bin noch vor der Frühmesse in die Sakristei, der Monsignore war gerade dabei, sich sein Messgewand überzustreifen, da hab ich ihn nach seinem Turmschlüssel gefragt. Verblüfft hat er in seine Manteltasche gegriffen, seinen Schlüsselbund herausgezogen und nachgesehen. Dann wurde er ganz blass. Es ist seiner, sein Turmschlüssel fehlt!«

      »Wann hat er ihn denn zum letzten Mal benutzt?«

      »Das hab ich ihn natürlich auch gefragt, das wusste er nicht mehr genau. Ewig lang sei er nicht mehr auf den Türmen gewesen, wegen seines Rheumas meide er jede Anstrengung. Wann er den Schlüssel denn zuletzt an seinem Schlüsselbund bemerkt hat, hab ich ihn gefragt, auch das konnte er mir nicht beantworten. Jemand muss ihn gestohlen haben.«

      »Und dieser Jemand ist …«

      »Der Täter!«

      Karl-Dieter sah ihnen aus dem Fenster hinterher, beobachtete, wie sie zusammen in Mützes Manta stiegen. Vielleicht sollte er selbst mal jemanden einladen, jemand aus dem Theater am besten. Wie wäre es mit Eduardo, dem begabten Tänzer? Er könnte ja gerne auch eine Freundin mitbringen oder einen Freund, wenngleich nichts danach aussah, dass der junge Spanier verpartnert war. Nach den Proben, wenn die anderen noch gemeinsam loszogen, um etwas

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