Скачать книгу

nein, umgekehrt. Der Klöppel bewegt sich ja nicht, also nicht aktiv, die Glocke schwingt und trifft dann, wenn sie genug Schwung aufgenommen hat, auf den Klöppel. Aber das dauert eben seine Zeit, zweieinhalb Minuten.«

      »Okay, verstehe«, sagte Mütze, »es kann also sein, dass das Opfer von dem einsetzenden Schwingen nichts mitbekommen hat, bis ihn die Glocke mit voller Wucht gegen den Kopf traf.«

      »Mit voller Wucht nicht unbedingt, wie gesagt, sie schwingt sich ja zunächst ein«, sagte der Glockenwart, »auch hängt vieles davon ab, wo genau sich sein Kopf befunden hat. Vielleicht hat die Glocke zunächst auch den Klöppel getroffen, weil der Kopf des Mannes in dessen Schatten lag.«

      Mütze trat vor, zog Einmalhandschuhe über und umfasste den Klöppelballen mit beiden Händen.

      »Wie schwer ist der Klöppel?«

      »Genau 366 Kilogramm.«

      »Okay. Dann dürfte das auf das Gleiche hinauslaufen«, sagte Mütze, »jedenfalls ist Sternberg nicht gleich tot gewesen, ist aufgewacht und hat sich zu wehren versucht.«

      Er musste an die zerquetschten Hände des Toten denken und was ihm der Professor dazu gesagt hatte. Mütze packte den Klöppel mit beiden Händen und stemmte sich dagegen, sodass das blutverschmierte Eisen leicht zu schwingen begann. Was würde er selbst machen, wenn man ihn in die Glocke hängen würde? Vielleicht nach dem Klöppel greifen und versuchen, sich an ihm hochzuziehen? Konnte das gelingen? Zumindest war es einen Versuch wert, sich vom Klöppel in die entgegengesetzte Richtung abzustoßen, wenn die Glocke auf einen zukam. Der Todeskampf jedenfalls wird sich hingezogen haben.

      »Haben Sie denn niemanden schreien gehört?«

      »Schreien gehört? Wenn die Gloriosa läutet?« Der Glockenwart schüttelte verständnislos den Kopf.

      Mütze verstand. Sein Blick fiel auf den Boden, wo noch das Muster der Blutspuren zu sehen war, Schlingen und Schleifen wie gemalt. Die Nelke war nicht mehr zu sehen.

      Es war schon gegen zehn, als Wullkopf, der Chef der Spurensicherung, im Kommissariat eintraf. Mütze sprang auf und bot ihm einen Stuhl an. Auch Braunkärsch und das Brot saßen mit am Tisch. Wullkopf setzte sich dankend. Viel hatte er nicht zu berichten.

      »Alle Blutspuren, die wir bislang untersucht haben, stammen eindeutig von Sternberg. Auch die Haarpartikel am Klöppel und an den Rändern der Gloriosa sind dem Opfer zuzuordnen. Den Strick untersuchen wir noch auf Anhaftungen, bislang negativ. Fingerabdrücke an der Tür zum Turm haben wir genügend gefunden, der Abgleich mit der Datenbank ergab keinen Treffer, vielleicht haben wir es mit einem neuen Kunden zu tun.«

      Mütze verzog die Mundwinkel. Dass man Fingerabdrücke an der Tür gefunden hatte, hieß überhaupt nichts. Wer wird die Klinke nicht alles in die Hand genommen haben? Hunderte von Touristen besuchten den Glockenturm jeden Tag, das hatte ihnen der Glockenwart erzählt.

      »Was ist mit der Nelke?«

      »Gehörte dem Toten. Hatte er in einem Knopfloch getragen, winzige Pflanzenfasern am Anzug stimmen mit der Nelke überein.«

      Der schnieke Anzug, die Nelke. Alles sprach dafür, dass sich Sternberg zu einem Rendezvous verabredet hatte. Das Treffen muss eine Falle gewesen sein. Diejenige Person, die sich mit ihm verabredet hatte, musste mit dem Mörder identisch sein oder doch zumindest mit ihm unter einer Decke stecken. Dass man Sternberg auf dem Weg zu seiner Verabredung abgepasst und auf den Turm gelockt hat, war nahezu auszuschließen.

      »Sonst hätte sich die Dame seines Herzens doch sicher Sorgen gemacht und sich an uns gewandt«, sagte Braunkärsch.

      »Kann sein, muss nicht sein«, gab Mütze zu bedenken, »wie viele Damen müssen sich damit abfinden, sitzen gelassen zu werden? Wenn jede von ihnen zu uns rennen würde, hätten wir viel zu tun.«

      »Mensch, Mütze. Du ein Frauenversteher?«

      »Kannste mal sehen. Im Ernst, morgen steht Sternbergs Name in allen Zeitungen, dann werden wir ja mitbekommen, ob sich jemand meldet, der sich die Augen ausgeweint hat.«

      »Vielleicht, vielleicht auch nicht. In der heutigen Zeit sind Blind Dates schwer in Mode.«

      »Blind Dates?« Der Leiter des Kommissariats schaute verwirrt, soweit das sein trauriger Dackelblick zuließ.

      »Verabredungen, ohne viel von dem anderen zu wissen, nicht mal den wirklichen Namen.«

      Weder einen Geldbeutel noch ein Handy hatten sie gefunden, nicht bei der Leiche und nicht in Sternbergs Wohnung. Dieses Faktum schloss zwar einen Raubmord nicht aus, die Durchführung der Tat dafür umso mehr. Welcher gewöhnliche Räuber würde einen solchen Aufwand betreiben, um an ein Handy und ein bisschen Kohle zu kommen? Die Entwendung aller persönlichen Gegenstände konnte nur einen Grund haben: Der Täter fürchtete sich vor Spuren, die auf ihn hindeuteten.

      »Wir haben einen Anschluss ermitteln können, der auf Sternbergs Namen läuft. Der Anschluss ist tot, das Handy muss ausgeschaltet worden sein und mehr als das, vermutlich hat man den Akku entfernt oder das Handy komplett zerstört«, sagte Wullkopf.

      »Das Bewegungsprofil vor der Tat?«

      »Sind wir noch drüber. Die Telefongesellschaft ist kontaktiert.«

      »Gut.«

      Ein Bewegungsprofil von Sternberg, seine letzten Wege vor seinem Tod, konnte sehr aufschlussreich sein. Wo war Sternberg losgelaufen? Wann war er am Dom eingetroffen? Welche anderen Handys hatten sich zur gleichen Zeit am selben Ort eingeloggt? Mit etwas Glück kamen sie auf diesem Weg weiter.

      Mützes Handy schlug an. Es war die Pforte, ein Anruf für ihn, ein gewisser Kevin Wieland wolle ihn sprechen.

      »Stellen Sie durch! – Herr Wieland? Sind Sie zu Hause? Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir kommen vorbei.«

      Das Wetter war umgeschlagen. Ein übler Nordwest trieb fette Wolken gegen die Höhen des Thüringer Waldes, es fing kräftig an zu plästern. Die Wischblätter des Mantas taten, was sie konnten. Der Verkehrsbericht warnte vor Neuschnee auf dem Rennsteig. Nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit, meinte Braunkärsch, der aus Ilmenau stammte.

      »Im Grunde gibt es nur zwei Monate, die dort oben garantiert schneefrei sind, Juni und Juli. Selbst Ende August hat es schon geschneit.«

      Braunkärschs Gesicht trübte sich ein, während er das sagte. Für kein Geld der Welt würde er mehr einen Fuß in die alte Heimat setzen. Nicht, dass er keine glücklichen Erinnerungen an seine Kindheit gehabt hätte, im Gegenteil. Seine Kindheit war ihm als einziger Traum erschienen, ein kleines Paradies voller Geheimnisse und Geborgenheit. Die ungezwungenen Spiele mit seinen Kameraden an den Ufern der Ilm, die nahen Wälder mit ihren Verstecken, die unbegrenzten Freiheiten ihrer kleinen Welt, der Duft des Pflaumenkuchens am Gartentisch seiner Großmutter. Seine größte Freude aber war es gewesen, nach Spuren von Unfällen zu fahnden. An einer gefährlichen Kurve am Ortseingang, nicht weit von seinem Elternhaus, hatte es immer mal wieder ein Auto gegen einen Alleebaum geschleudert. Sofort war er los und hatte im Straßengraben nach Spuren des Unfalls gesucht. Wie groß war seine Freude gewesen, wenn er etwas gefunden hatte, einen abgerissenen Autospiegel, ein zerbrochenes Blinkerglas, einmal sogar einen kompletten Kotflügel. Mithilfe seiner Schätze hatte er versucht, den Unfallhergang zu rekonstruieren.

      Seit er sich erinnern konnte, war es sein größter Wunsch gewesen, eine Ausbildung zum Polizisten zu absolvieren und dann in seine Heimatstadt zurückzukehren. Doch wehe, wenn sich Wünsche erfüllen! Die Rückkehr nach Ilmenau sollte zu seinem größten Albtraum werden. Was er dort hatte erleben müssen, ließ ihn nicht mehr los. Am Schlimmsten war diese Stimme, die Stimme der Mutter. Sie verfolgte ihn bis in die Nächte hinein. Oft konnte er darauf nicht weiterschlafen, ja, wollte nicht weiterschlafen, um nicht erneut diesen Traum zu träumen. Dann stand er auf, erschöpft und todmüde, setzte sich an den Tisch und wartete, wartete darauf, dass endlich der Morgen graute. Nein, nie wieder wollte er nach Ilmenau zurück.

      Erfurt tat ihm gut, die Geräusche der Stadt, das quirlige Leben, all das beruhigte ihn. Nie hätte er sich das früher vorstellen können.

Скачать книгу