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Jerusalem«, den die Westgoten aus Byzanz mitgebracht hätten. Die Verbindung zur sogenannten »Blutlinie Christi« hängt an noch weiter hergeholten Annahmen, vor allem an der Vorstellung, dass Maria Magdalena nach Südgallien gereist sei und ihre Nachkommen in westgotische Familien eingeheiratet hätten.

      Man muss deshalb die Fantasie spielen lassen, um die verlorene westgotische Kultur der aquitanischen Zeit zurückzuholen. Es wäre zum Beispiel möglich, sich von den bekannten Realien des westgotischen Spaniens aus in der Zeit zurückzuarbeiten. Schließlich dominierten die religiösen und künstlerischen Praktiken, die die Westgoten wohl aus Aquitanien mitgebracht hatten, in Teilen der Iberischen Halbinsel bis ins späte 6. Jahrhundert; die gotische Sprache, die Sidonius in Tolosa hörte, hielt sich in Toledo bis zum 7. Jahrhundert; und die politische Kultur der Westgoten, wie sie Eurich als Erster definierte, entwickelte sich bis ins 8. Jahrhundert hinein weiter. Natürlich muss man sehr vorsichtig vorgehen. Nicht alle Dinge, die das westgotische Etikett tragen, wie etwa der westgotische Kirchengesang oder die westgotische Schrift, stammen wirklich von den Westgoten. Und der iberische Kulturboden, in den die westgotischen Bräuche hineinverpflanzt wurden, war zwar ähnlich romanisiert, aber dennoch nicht mit dem des gallischen Aquitanien identisch.

      Dennoch gibt es verschiedene Hinweise, bei denen man ansetzen könnte. In der Kirchenarchitektur könnte die ausgesuchte Schlichtheit der westgotischen Kirche San Pedro de la Nava in Zamora durchaus Parallelen im nachrömischen Gallien gehabt haben. Ihre erhaltenen Hufeisenrundbögen und Tunnelgewölbe waren eindeutig von einer früheren Tradition inspiriert. Der Symbolismus und Stil der westgotischen Kirchenkunst hatte byzantinische Wurzeln und fand ganz sicher auch in Tolosa seinen Ausdruck. Der Einfluss der gotischen Sprache auf die einheimische Bevölkerung war zwar begrenzt, aber sicher auf beiden Seiten der Pyrenäen ziemlich ähnlich. Worte wie suppa (Suppe) oder bank (Bank) gehören zu der langen Liste von Germanismen, die die neulateinischen Mundarten übernommen haben.37 Und da in der Kindheit gelernte Gebete am besten sitzen, können wir mit einiger Berechtigung davon ausgehen, dass die gotische Form des Vaterunsers, wie sie auf jeder Etappe der Reise der Westgoten von der Donau bis an den Douro rezitiert wurde, auch in Nostra Domina Daurata fromm gebetet wurde:

Atta unsar þu in himinam weihnai namo þein qimai þiudinassus þeins wairþai wilja þeins swe in himina jah ana airþai. Hlaif unsarana þana sinteinan gif uns himma daga jah aflet uns þatei skulans sijaima swaswe jah weis afletam þaim skulam unsaraim jah ni briggais uns in fraistubnjai ak lausei uns af þamma ubilin Unte þeina ist þiudangardi jah mahts jah wulþus in aiwins. Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name. Dein Reich komme, Dein Wille geschehe, Wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute, Und vergib uns unsere Schuld, Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, Sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.38

      ∗∗∗

      Das Schicksal des Tolosanischen Reiches provoziert natürlich auch zum Nachdenken über »kontrafaktische Geschichte«. Was wäre, wenn die Westgoten Chlodwig geschlagen hätten? Die Möglichkeit dazu bestand durchaus, und sie eröffnet Ausblicke auf eine nicht realisierte Zukunft. Kurz vor der Schlacht von Vouillé kontrollierten die Franken vielleicht ein Drittel des nachrömischen Gallien. Die Westgoten, arianische Christen, stiegen zu den Herren der Iberischen Halbinsel und Südgalliens auf und waren mit den Ostgoten in Italien verbandelt. Der Bischof von Rom nahm keine herausgehobene Position unter den fünf Patriarchen der Christenheit ein, und der weitaus größte Teil Europas war nach wie vor heidnisch. Wenn Alarich II. Chlodwig abgewehrt hätte, wäre die Vorstellung eines Westeuropa unter pangotischer Hegemonie durchaus realistisch gewesen, während sich eine geschwächte römische Kirche vor dem doppelten Ansturm des Arianismus und der byzantinischen Orthodoxie hätte zurückziehen müssen. In diesem Fall hätte es Frankreich wohl nie gegeben, oder es hätte sich vielleicht anderswo oder auf andere Art entwickelt. Die zukünftige Macht des Papstums, die die Franken fördern sollten, wäre vielleicht nie zustande gekommen. Nichts ist unausweichlich. Nichts ist hundertprozentig vorhersagbar.

      Doch man sollte den vielen Altemativszenarien, die es zu jeder geschichtlichen Epoche gibt, nicht zu viel Aufmerksamkeit widmen: Die Vergangenheit ist kein Brettspiel, das man wiederholen kann, so oft man will. Was passiert ist, ist passiert. Was nicht, nicht. Der Franke Chlodwig tötete den Westgoten Alarich und die Franken trieben die Westgoten aus dem Land, nicht umgekehrt. Deshalb ist es nicht unlogisch, wenn man behauptet, dass »die Geschichte Frankreichs in Vouillé begann«.

      Die Geschichte der »nachrömischen Dämmerung« ist auch so schon kompliziert genug: Historiker müssen die Unterschiedlichkeit der »Barbaren« ebenso berücksichtigen wie die überaus multikulturelle und multiethnische Vermischung mit der vorhandenen Bevölkerung. In diesem Zusammenspiel ergaben sich immer wieder unerwartete Wendungen und Kapriolen. Und vor allem: Der Zeitraum war gewaltig. Die Spanne zwischen dem Zusammenbruch des römischen Westreichs im Jahr 476 und dem Auftauchen erkennbarer moderner Staaten wie Frankreich oder England umfasst mindestens 500 Jahre. Die nachrömische Dämmerung hielt sich doppelt so lange wie das Westreich selbst.

      In dieser Hinsicht dient das Beispiel der Westgoten als eine Fallstudie für das »barbarische Europa« als Ganzes. Ihr Aufenthalt in Aquitanien war nur eine Zwischenstation auf einem sehr langen Weg. Wie ihre Verwandten, die Ostgoten und die Langobarden, und ihre zeitweiligen burgundischen Nachbarn gehörten sie einer ethnischen und sprachlichen Untergruppe an, die heute völlig ausgestorben ist. Ihre Bräuche und ihre Sprache standen dem Fränkischen sehr fern. (Dieses bildet den Ursprung des Niederländischen und Flämischen, und mit seiner Hilfe wurde aus dem gallo-römischen Latein das Altfranzösische.) Höchstwahrscheinlich konnte sich Alarich II. in Amboise gar nicht mit Chlodwig unterhalten, ohne auf das Lateinische oder einen Dolmetscher zurückzugreifen. Mehr noch, die Westgoten trafen unterwegs viele andere »Barbaren«, die zweifellos ihre Sprache, ihre Kultur und ihren Genpool »kontaminierten«. Unter ihnen waren ostgermanische Vandalen, mittelgermanische Sueben oder »Schwaben«, das Turkvolk der Hunnen und die Alanen, die wie die heutigen Osseten aus dem Iran stammten.39

      Das Gedächtnis spielt den Menschen so manchen Streich. Einen davon könnte man vielleicht die »perspektivische Verkürzung der Zeit« nennen. Wenn die Europäer heute auf die Vergangenheit zurückblicken, sehen sie die moderne Geschichte im Vordergrund, die mittelalterliche Geschichte in mittlerer Entfernung und das nachrömische Halbdunkel als einen schwach erkennbaren Streifen am fernen Horizont. Gestalten wie Alarich oder Chlodwig bleiben weit entfernte, konturlose Punkte, bis sie aus ihrem historischen Umfeld herausgenommen, vergrößert, herausgeputzt und umschwärmt werden, weil es der Politik späterer Tage oder dem Nationalstolz gerade förderlich ist. An Chlodwig I., König der Franken, den Sieger von Vouillé, erinnert ein prächtiges Grab in der Pariser Abtei St. Denis. Alarich II., den Chlodwig tötete, hatte über ein größeres Reich geherrscht als dieser. Und doch besitzt er kein bekanntes Grab, kein modernes Denkmal.

      Die historische Erinnerung ist alles andere als unparteiisch. Die Westgoten müssen das gewusst haben. In ihrer ganzen Weisheit begruben sie ihre Anführer auf althergebrachte Weise, die die Toten ehrte, aber keine Spuren hinterließ. Die Grabstätte von Alarich I., »dem Herrscher

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