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habe ich mich bei der Planung dieses Buches auf zwei Prioritäten konzentriert: den Unterschied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit herauszuarbeiten und die Funktionsweise des historischen Gedächtnisses zu erforschen. Deshalb ist jede Fallstudie dreigeteilt. Teil I jedes Kapitels skizziert eine Region in Europa, wie sie heute aussieht. Teil II erzählt die Geschichte eines »vanished kingdom«, das sich einst in jener Gegend befand. Teil III untersucht, wie sehr dieses »vanished kingdom« in Erinnerung geblieben ist oder vergessen wurde; allzu oft erinnert man sich kaum daran und hat es halb vergessen, oder es ist völlig aus dem Gedächtnis verschwunden.

      Zudem habe ich mir alle Mühe gegeben. Verschwundene Reiche aus den vielen wichtigen Epochen und Regionen der europäischen Geschichte auszuwählen, wie der Umfang des Buches es zuließ. Tolosa zum Beispiel lag im Westen Europas, Litauen und Galizien im Osten. Alt Clud und Éire befanden sich auf den Britischen Inseln, Preußen im Baltikum, Tsernagora auf dem Balkan und Aragon auf der Iberischen Halbinsel und im Mittelmeerraum. Die »fünf, sechs, sieben Königreiche« des Burgund-Kapitels umfassten im Mittelalter sowohl das heutige Frankreich wie auch Teile Deutschlands; bei Savoyen geht es vor allem um die Frühe Neuzeit und um die Verbindung von Frankreich, der Schweiz und Italien; Rosenau und die UdSSR gab es nur im 19. bzw. 20. Jahrhundert.

      Natürlich kann man das Thema der Verschwundenen Reiche mit einer begrenzten Anzahl von Beispielen, wie ich sie hier präsentiere, nicht erschöpfend behandeln. Die »Geschichte des halb vergessenen Europa« ist viel komplexer, als jede Auswahl sie darstellen kann. Viele Kandidaten mussten herausfallen, und sei es auch nur als Platzgründen. Eine dieser Studien, »Kernow«, befasst sich mit dem Reich König Marks im nachrömischen Cornwall und schmückt sich mit Gedanken zum Thema des kulturellen Genozids und Auszügen aus dem Werk des kornischen Dichters Norman Davies. Eine andere Untersuchung, »De Grote Appel: Eine kurzlebige holländische Kolonie«, berichtet von New Amsterdam, bevor es zu New York wurde. Eine dritte, »Carnaro: Die Regentschaft des ersten duce«, erzählt die außergewöhnliche Geschichte von Gabriele d’Annunzios Machtübernahme in Fiume im Jahr 1919 und schließt mit seinem wunderbaren Gedicht »La pioggia nel pineto«, »Regen im Pinienhain«.

      Bei all diesen Unternehmungen habe ich natürlich intensiv auf die Werke anderer zurückgegriffen. Kein Historiker kann so gründlich über alle Bereiche und Epochen der europäischen Geschichte Bescheid wissen, und gute Generalisten weiden sich mit Genuss an den Mahlzeiten, die ihre spezialisierten Kollegen ihnen auftischen. Jeder, der unvertrautes Terrain betritt, muss sich mit Karten, Führern und Berichten all jener wappnen, die schon dort waren. In den frühen Phasen meiner Forschungen erhielt ich unglaublich wertvolle Tipps von spezialisierten Kollegen wie dem verstorbenen Rees Davies zum Alten Norden, von David Abulafia zu Aragon oder von Michał Giedroyć zu Litauen, und fast alle Kapitel haben stark von Spezialuntersuchungen und gelehrten Gesprächen profitiert. Kurz gesagt ist jeder einzelne Abschnitt meiner kleinen Kathedrale aus den Ziegeln, Steinen und Entwürfen anderer Historiker entstanden.

      Platons Metapher vom »Staatsschiff« hat mir immer sehr gefallen. Die Vorstellung eines großen Schiffs mit Steuermann, Besatzung und vielen Passagieren, das durch das Meer der Zeit pflügt, spricht mich unwiderstehlich an – ebenso wie die vielen Gedichte, die es feiern: O navis, referent in mare te novi fluctus! O quid agis? Fortiter occupa portum! Nonne vides ut nudum remigio latus…18

      Soll dich wieder, o Schiff, tragen ins Meer die Flut!

      O was hast du im Sinn? Standhaft behaupte den

      Hafen! Siehest du nicht, wie

      Oder aber:

Thou, too, sail on, O Ship of State! Auch Du ziehe weiter, o Staatenschiff,
Sail on, O Union, strong and great! Du Union, so stark und groß!
Humanity with all its fears Die Menschheit mit all ihrer Furcht, ihrem Leid,
With all the hopes of future years, Mit all ihrem Hoffen auf kommende Zeit,
Is hanging breathless on thy fate!19 Mit Beben hängt an Deinem Los!

      Diese Zeilen des Dichters Henry Wadsworth Longfellow hat Präsident Roosevelt handschriftlich am 20. Januar 1941 an Winston Churchill gesandt. Begleitet waren sie von einer Notiz: »Ich glaube, diese Verse wenden sich an Ihr Volk ebenso wie an uns.«20

      Eben diese Gedanken kommen einem in den Sinn, wenn man sich den Kopf über »kingdoms that have vanished« zerbricht. Denn die »Staatsschiffe« segeln nicht ewig weiter. Manchmal trotzen sie den Stürmen, manchmal gehen sie unter. Gelegentlich retten sie sich in einen Hafen und werden repariert; bei anderen Gelegenheiten werden sie, irreparabel beschädigt, abgewrackt; oder sie sinken, sie gleiten hinab und finden eine verborgene Ruhestätte unter Krebsen und Fischen.

      Das lässt andere Assoziationen hochkommen, solche, bei denen der Historiker zum Strandguträuber und Schatzsucher wird, einem Sammler von Treibgut aller Art, der Wracks hebt, einem Tiefseetaucher, der den Meeresboden absucht, um zu bergen, was verloren war. Dieses Buch fühlt sich wohl in der Kategorie historischer Bergungsversuche. Es sammelt die Spuren gesunkener Staatsschiffe und lädt den Leser ein, freudig mitzuerleben, wie die angeschlagenen Galeonen zumindest auf dem Papier ihre umgestürzten Masten wieder aufrichten, die Anker lichten, die Segel füllen und in der Dünung des Ozeans erneut auf Kurs gehen.

      Norman Davies

       Peterhouse und St Antony’s

       für die deutsche Übersetzung Juni 2013

      1

      Das Tolosanische Reich

      Zwischenhalt der Westgoten

       (418–507 n. Chr.)

      Wegweiser nahe Vouillé

      I

      Vouillé, früher Vouillé-la-Bataille, ist ein kleines Landstädtchen mit etwa dreitausend Seelen im französischen Département Vienne und chef-lieu eines Gemeindeverbandes in der Region Poitou-Charentes. Es liegt an der Route Nationale 149, der alten römischen Straße von Poitiers nach Nantes, und wird von einem hübschen Flüsschen, der Auxance, durchflossen, das zum Atlantik mäandert. Das Dorf kann zwei Kirchen vorweisen, zwei Schulen, einen winzigen Platz, den man durch einen Bogen betritt, einen großen terrain de pétanques, schöne Gärten am Wasser, ein Rathaus, eine Handvoll Restaurants, ein bescheidenes Sportstadion, einen hohen Wasserturm, ein denkmalgeschütztes Chateau-Hotel, Le Périgny, einen Wochenmarkt am Samstag und keinerlei

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