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Institutionen unvergleichlich, unser Land irgendwie ewig. Vor allem die Engländer leben in seliger Ahnungslosigkeit darüber, dass die Auflösung des Vereinigten Königreichs schon 1922 begann und sich wahrscheinlich fortsetzen wird; mit komplexen Identitäten sind sie nicht so vertraut wie die Waliser, die Schotten oder die Iren. Wenn daher das Ende kommt, wird es für sie überraschend kommen. Wer ernsthaft an das patriotische Lied »There will always be an England«, glaubt, hat keine Ahnung. Und dabei war es einer der immer noch vernommenen Dichter Englands, der im stillen Schatten des Friedhofs von Stoke Poges seine »Elegy« schrieb und das sichere Ende zusammenfasste, das auf Staaten und Menschen gleichermaßen wartet. Thomas Gray kennt die unserem Wesen eigene Eitelkeit:

      The boast of heraldry, the pomp of power,

      And all that beauty, all that wealth e’er gave.

      Awaits alike th’inevitable hour:

      The paths of glory lead but to the grave.

      Der Wappen Prahlerei, der Pomp der Macht,

      Was je der Reichtum und was Schönheit gab,

      Sinkt unerlöslich hin in eine Nacht:

      Der Pfad der Ehre führet nur ins Grab.15

      Früher oder später kommt der Todesstoß. Seit der Niederlage des Dritten Reiches 1945 sind schon für einige europäische Staaten Nachrufe geschrieben worden: für die Deutsche Demokratische Republik (1990), die Sowjetunion (1991), die Tschechoslowakei (1992) und Jugoslawien (2006). Es werden zweifellos noch mehr werden. Die schwierige Frage dabei ist nur, wer der Nächste sein wird. Angesichts seiner gegenwärtigen Dysfunktionalität könnte Belgien Europas nächster Riesenalk werden, oder vielleicht Italien. Es ist unmöglich, sich da festzulegen. Und niemand kann einigermaßen sicher vorhersagen, ob das jüngste Kind der europäischen Staatenfamilie, die Republik Kosovo, untergehen oder schwimmen wird. Aber jeder, der glaubt, dass das Gesetz der Vergänglichkeit für ihn nicht gilt, lebt in einem Wolkenkuckucksheim (ein von Aristophanes geprägtes Wort, das sein Publikum dazu bringen sollte, innezuhalten und nachzudenken).

      Irgendwie muss meine eigene Ausbildung an der Schule und Universität da noch durchgerutscht sein, bevor der Verfall einsetzte. An der Bolton School Iernte ich Latein, fing mit Griechisch an und übernahm meinen Teil an den täglichen Bibellesungen in der Schulaula; meine Geschichts- und Geografielehrer, Bill Brown und Harold Porter, ermunterten ihre Oberstufenschüler dazu, Bücher in fremden Sprachen zu lesen. Während meines Jahres in Frankreich, in Grenoble, saß ich in der Bibliothek und kämpfte mich durch eine ganze Menge Michelet und Lavisse in der Hoffnung, dass irgendetwas hängen bleiben möge. Am Magdalen College wartete ein unvergleichliches Tutoren-Dreigestirn in Gestalt von K. B. McFarlane, A. J. P. Taylor und John Stoye auf mich. In meiner allerersten Tutorenstunde erklärte McFarlane mit einer Stimme, so sanft wie seine Katzen, man solle »nicht alles glauben, was man in Büchern liest«; Taylor sollte mir später empfehlen, die Doktorarbeit zu vergessen und ein richtiges Buch zu schreiben, weil »Doktortitel etwas für zweitklassige Wissenschaftler« seien; seine politischen Ansichten waren seltsam, sein Gehabe gegenüber Schülern onkelhaft, seine Vorlesungen großartig und sein Prosastil köstlich. Stoye, der sich damals mit der Belagerung von Wien beschäftigte, half mir meinen Horizont in Richtung Osten zu erweitern. Als Doktorand in Sussex lernte ich Russisch, nur um dann durch einen langen Aufenthalt in Polen von allen panslawischen Illusionen geheilt zu werden. An der Jagiellonen-Universität in Krakau fand ich mich in der Obhut erfahrener Historiker wie Henryk Batowski und Jozef Gierowski wieder, die sich vor allem damit beschäftigten, die Übergriffe eines totalitären Regimes abzuwehren, und infolgedessen leidenschaftlich an die Existenz historischer Wahrheit glaubten. Zurück am St Antony’s College in Oxford saß ich solchen Giganten wie William Deakin, Max Hayward und Ronald Hingley zu Füßen, die Geschichte, Politik, Literatur und haarsträubende Kriegsanekdoten miteinander verflochten; mein Doktorvater war der verstorbene Harry Willetts, Fachmann für polnische und russische Philologie und Übersetzer Solschenizins; seine Oberseminare fanden in der Küche seines Hauses am Church Walk statt, wo man aus erster Hand von seiner polnischen Ehefrau Halina erfuhr, was Deportation ins stalinistische Sibirien wirklich bedeutete. Als ich schließlich eine Stelle als Wissenschaftler an der School of Slavonic and Eastern European Studies (SSEES) in London fand, trat ich in den Schatten von Hugh Seton-Watson, eines polyglotten, unglaublich gelehrten Mannes, der auch während des Kalten Krieges nie vergaß, dass Europa aus zwei Hälften besteht. Hugh schrieb eine Rezension meines ersten Buches, anonym, wie es beim Times Literary Supplement damals üblich war, und bekannte sich erst etwa zehn Jahre später dazu. Wir alle an der SSEES hatten Mühe, einem Publikum, das in einer offenen Gesellschaft lebte, die Realitäten abgeschotteter Gesellschaften nahezubringen; wir alle hüteten schwache intellektuelle Flammen, die stets zu verlöschen drohten. Und das an sich war eine wichtige Erfahrung.

      Heute stehen die Barbaren im Vorgarten. Die meisten Schulkinder sind nie mit Homer oder Vergil in Berührung gekommen; manche erhalten überhaupt keinen religiösen Unterricht, egal in welcher Form; und das Lernen moderner Fremdsprachen ist fast zum Erliegen gekommen. Geschichte selbst muss um einen untergeordneten Platz im Curriculum kämpfen, neben offenbar wichtigeren Fächern wie Wirtschaft oder Informatik, Soziologie oder Media Studies. Materialismus und Konsumgesellschaft geben den Ton an. Junge Leute müssen in einer Welt des falschen Optimismus lernen. Anders als ihre Eltern und Großeltern wachsen sie mit sehr wenig Gespür für das gnadenlose Vergehen der Zeit auf.

      Die Aufgabe des Historikers geht daher über die Pflicht hinaus, die allgemeine Erinnerung zu pflegen. Wenn an wenige Ereignisse der Vergangenheit überall und ständig erinnert wird und andere ebenso wichtige Themen dabei unter den Tisch fallen, braucht man entschlossene Kundschafter, die die ausgetretenen Pfade verlassen und einige der weniger schicken Erinnerungsstätten bewahren. Das ähnelt der Arbeit von Ökologen und Naturschützern, die sich um bedrohte Arten kümmern, und jener, die, indem sie das Schicksal des Dodo und des Dinosauriers untersuchen, ein wahres Bild vom Zustand unseres Planeten wie auch von seinen Perspektiven entwerfen.

      Die vorliegende Geschichte einer Auswahl ausgestorbener Reiche habe ich mit eben dieser Neugier erforscht. Der Historiker, der sich auf die Spuren des »Königreichs Strathclyde« oder der »Republik für einen Tag« begibt, ist ebenso aufgeregt wie ein Biologe, der das Versteck des Schneeleoparden oder des Sibirischen Tigers aufspürt. John Keats beschreibt dieses Gefühl so: »Sah Könige, Fürsten, Ritter stehn –/So bleich, wie Tod nur bleich sein kann …«16

      Das Thema der menschlichen Hybris ist natürlich nicht neu. Es ist älter als die Griechen, die das Wort erfanden und auf der Zeit ihrer größten Macht die schon halb im Wüstensand versunkenen Statuen der ägyptischen Pharaonen entdeckten.

      »My name is Ozymandias, King of Kings:

      Look on my works, ye Mighty, and despair!«

      Nothing beside remains. Round the decay

      Of that colossal wreck, boundless and bare

      The lone and level sands stretch far away.

      Mein Name: Ozymandias, König der Könige!

      Schaut auf mein Werk, ihr Mächtigen, und verzweifelt.

      Nichts anderes hat überlebt als das.

      Rings um den Trümmerbruch

      der Riesenstele dehnt sich ohne Maß

      die Ebene voller Sand als weites

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