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so begegnet gegenläufig dazu doch wiederkehrend der Vorwurf, es würde »gläubig« oder dogmatisch am Wort Steiners festgehalten.38 Schlägt eine antidogmatische Einstellung hier um in Dogmatismus? Wie dem konkret auch sei, es gilt: Antidogmatismus als Programm schützt vor dogmatischen Verfestigungen keineswegs. Aber: Worin liegt der Reiz antidogmatischer Einstellungen und warum sind sie immer in Gefahr zu scheitern?

      Im Folgenden möchte ich – auf dem Hintergrund dieser prekären Situation – mit einigen Momentaufnahmen aus der Entstehungszeit der Steiner‘schen Theosophie zeigen, dass den jeweiligen »Dogmen« im Sinn von Lehrdarstellungen eine in sich widersprüchliche Funktion innewohnt: Sie sollen akzeptiert, aber auch wiederum nicht akzeptiert werden. Verbindet sich mit dieser ambivalenten Forderung gar ein systematischer Sinn und wenn ja, welcher? Im Anschluss an die Erörterung dieser Frage schlage ich drei hermeneutische Regeln vor, die Steiners vorliegendem Werk aus einem mittlerweile in Jahresringen fortschreitenden hundertjährigen Abstand und unter Einbeziehung einer historisch-kritischen Perspektive gerecht werden sollen. Ich beginne indessen, als Ausgangspunkt, mit einer Begriffsbestimmung in drei Schritten, die in ein Gravitationszentrum des Steiner’schen Denkens, Kant und den Deutschen Idealismus, hineinführen.

      Als Steiner nach 1900 seine Aufgaben als Kulturredakteur und philosophischer Schriftsteller mit der des Vortragsredners, Lehrers und Generalsekretärs der Theosophischen Gesellschaft tauscht, bedeutet das auch einen Wechsel in der Ausdrucksweise. War diese bislang vorwiegend begrifflich-kritisch gewesen, so ziehen mit den Lehrinhalten der angelsächsischen Theosophie zunehmend Ausdrücke und Themen in seine Darstellungen ein, die traditionell eher der Religion oder der Mythologie entstammen und einen vorwiegend bildlich-affirmativen Charakter haben. Im Unterschied zur begrifflichen Weitergabe »auf Augenhöhe« gelten letztere, wenn nicht als pure Traditionen, so doch als Offenbarungen oder Glaubensinhalte, die gewissermaßen »asymmetrisch« rezipiert, also auf Autorität hin geglaubt, nicht gedacht werden.39

      Gleichwohl ist hier zu beachten, dass spezifisch theosophische Inhalte wie die Wesensgliederlehre, die Hierarchien- oder die planetarische Weltentwicklungslehre zwar symbolische oder theologische/esoterische Ausdrucksformen und Themen wie Engel oder (esoterisch verstandene) Planeten verwenden, aber ihrem Gehalt nach begrifflich gedacht werden sollen. Steiner hört nach 1900 nicht auf zu denken. Der theosophische löst den philosophischen Steiner nicht einfach ab, sondern beide durchdringen, überblenden sich. Steiner lässt seine philosophischen Ansprüche keinesfalls hinter sich, sondern weitet sie auf neue Inhalte aus, die mythischer oder religiöser Herkunft sind und oft mit symbolischer Ausdrucksweise einhergehen.

      Des Weiteren muss im Feld der Steiner’schen Aussagen differenziert werden: Manche Passagen oder Gruppen seines theosophischen Werks sind vorwiegend begrifflich-symbolisch strukturiert wie seine Schrift »Geheimwissenschaft im Umriss« oder viele »Esoterische Stunden«.40 Andere wiederum sind in der Darstellung vorwiegend narrativ gehalten und setzen stärker auf die erzählten Inhalte, weniger auf begriffliche Dynamik und Kohärenz. Die Aufsatzfolge »Aus der Akasha-Chronik« (GA 11) aus der Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« mit der signifikanten, weitgehend aus der Literatur referierenden Schilderung »atlantischer Flugzeuge« ist dafür ein prominentes Beispiel.41 An solchen Stellen ist das Symbolische oder Bildhafte der Form, wenn man so will, vorwiegend narrativ, kaum noch begrifflich. Es ist also auch kaum in sich begrifflich nachvollziehbar und in der Bewertung eher vom autoritativen Status des Erzählers abhängig als von der Frage: Habe ich Gründe, (einer Person, einem Text, einer Aussage, einer Institution) zu glauben, oder eher nicht?42

      An dieser Stelle gewinnt das problematisch verstandene Wort des Dogmas seine Bedeutung und zwar zunächst im Sinne einer persönlichen Haltung. Dogmatisch bin ich dann eingestellt, wenn ich auf Autorität hin glaube, nicht aber eigenständig denke. Auf Autorität hin zu glauben impliziert bereits meine Zustimmung. Eigenständig und kritisch zu denken würde aber Zustimmung oder Ablehnung zunächst offenlassen. Zwischen Aussage und Zustimmung besteht keine Kontinuität, sondern ein Bruch, der Offenheit anzeigt. Genau diese Offenheit ist interessanterweise in der philosophischen Begriffsgeschichte des Wortes »Dogma« anfangs zu finden. Seiner Herkunft nach beinhaltet das Wort nämlich einen Doppelsinn, den zwischen einer Meinung einerseits und dem Dafürhalten oder Geltendmachen dieser Meinung andererseits.43 Während sich der eine Bedeutungsaspekt auf den Inhalt einer Meinung richtet, geht der andere auf die Geltung des Gemeinten oder den Akt der Zustimmung. In der Begriffsgeschichte, insbesondere in der heutigen Alltagsverwendung des Wortes, hat sich der zweite Aspekt verselbstständigt: Dogma ist, was unbedingte Geltung beansprucht. Demgegenüber ist an den vergessenen Bedeutungsaspekt einer neutralen »bloßen« Meinung oder neutraler Aussagen zu erinnern.

      Philosophiehistorisch bekommt das Wortpaar »Dogma – dogmatisch« mit Kants kritischer Wende ein besonderes Gewicht. Damit nämlich verabschiedet Kant sich in einem Gestus der »Aufklärung« von alten dogmatischen, d. h. ungeprüften Überzeugungen und vergleicht diesen Vorgang rückblickend mit dem Prozess des Erwachens aus »dogmatischem Schlummer«.44 Einerseits beschreibt Kant mit seinen Überlegungen zu einer schlummernddogmatischen Haltung und dem Aufwachen durch Kritik eine, nämlich seine historische Situation. Aber gleichwohl beinhaltet das Moment der Aufklärung eine prinzipielle, wohl immer geltende Situation. Denn insofern wir im Prinzip jederzeit zu neuen Einsichten »erwachen« können, sind wir, potenziell auch immer von dogmatischen Überzeugungen umgeben, deren dogmatischen Charakter wir allerdings erst dann bemerken, wenn wir eine kritische Prüfungen, einen Moment des Erwachens, vollziehen und ihn als solchen erkennen.45 Insofern steht das denkerische, aufklärerische, kritische Wachwerden der dogmatischen, unhinterfragten, bloß geglaubten Meinung gegenüber. Dogma ist das Gegenteil von Kritik.

      Aber bei Kant hat das Wort keine bloß pejorative Funktion. Viel mehr noch ist es Terminus für eine philosophische Methode, die nicht von der Sinneserfahrung ausgeht, sondern von nicht-sinnlichen Begriffen und deren Beziehungen.46 Kant vergleicht die dogmatische Methode insofern mit der Mathematik, setzt sie aber nicht mit ihr gleich. Für unseren Zusammenhang heißt das: Ein dogmatisches Verfahren in »reinen« Begriffen kann sehr wohl kritisch und selbstverantwortet sein.

      Im Anschluss an Kant führt Fichte aus, dass es überhaupt nur zwei philosophische Systeme gebe, das dogmatische und das kritische. Das kritische sei dem dogmatischen darin überlegen, dass es dem Ich nicht »völlig willkürlich« einen Begriff des Dinges »als de(n) schlechthin höchste(n)« entgegensetze, sondern vom Ich als dem kritischen Prinzip einer selbstverantworteten Philosophie ausgehe.47 Die Verantwortung des Denkens also, eine Selbstverständlichkeit, liegt beim denkenden Ich, nicht beim gedachten Ding oder Satz. Im Anschluss wiederum an Fichte bringt Schelling diesen Gedanken in Fluss, wenn er als einen Dogmatiker denjenigen bestimmt, »der alles als ursprünglich außer uns vorhanden (und nicht als aus uns werdend und entspringend) voraussetzt«48 und bestimmt damit umgekehrt als eine kritische Philosophie diejenige, die auf das Werden und Entspringen des Denkens in uns achtet und dem systematisch den gebührenden Stellenwert zuweist.

      So können wir als Dogma etwas uns von außen Gegebenes (etwas Gesagtes, eine Behauptung, eine Sinneswahrnehmung, eine Offenbarung etc.) verstehen, als Dogmatismus die Absolutsetzung dieses Gegebenen »ohne Einsicht in die Welt, der die Behauptungen entspringen«, 49 welche bei Schelling wie bei Steiner im eigenen Denken zu finden ist. In dieser Konstellation verweist ein Dogma als etwas Vorhandenes immer zurück bzw. weiter auf eine Prozessualität des Werdens und Entspringens, die aber im »Inneren« – und das heißt auch: selbstverantwortet – zu finden ist. Das Verhältnis von Dogma und Kritik entspricht damit auch der Qualität von Gewordenem und Werdendem. Des Weiteren können in diesem Kontext als Dogmen alle Begriffe verstanden werden, die nicht sinnesbezogen sind. Und: Auf Dogmen können wir – auf diesem allgemeinen begrifflichen Niveau – genauso wenig verzichten wie auf vieles andere, was uns von außen zukommt. Wichtig aber bleibt im Sinn der idealistischen

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