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Geheimnisökonomie des langsamen Verstehens und Entdeckens. So gerät hermeneutisches Fragen und herrschaftssoziologisches Traktieren in Konflikt. Die Gestalt des Erzählers ist es indessen, nicht die des Charismatikers, die es vermag, mit Geheimnissen so umzugehen, dass sie sich zusehends lüften, dass sie Elemente eines Bildungsprozesses sind, dass sie eine Wissensstruktur verbürgen, die stärker auf Entwicklung als auf Wissenszuwachs aufbaut, dass sie als unabdingbares Einsprengsel einer Didaktik gesehen werden, die Begeisterung nicht ausschließt. Von Geheimnissen zu erzählen bedeutet, neue Erfahrungen zu ermöglichen und seltene, besondere Erfahrungen auszutauschen. Die Geheimnisatmosphäre einer Erzählung lockt zwar, aber sie macht nicht abhängig, wohl aber reicher.29

      Aus diesen Überlegungen ergibt sich das von mir vorgeschlagene Konzept, Rudolf Steiner als einen Erzähler zu verstehen. Zu Punkt eins bedeutet das: Das Ideal der Nachprüfbarkeit findet in der Erfahrungsbezogenheit der Erzählung ein Medium. Denn jede Erzählung ermöglicht und vermittelt Erfahrungen, die nicht und schon gar nicht vorab als Überzeugungen akzeptiert sein müssen. Erzählung verbürgt Kohärenz, die Überprüfung möglich macht und einen Zwang zur Zustimmung genauso wie zur Ablehnung aussetzt. Ein klarer Begriff des Dogmas und der Hypothese sind dazu Voraussetzungen. Erzählung ist eine Plausibilitätsform von Wissenschaft, die nicht überdehnt, aber auch kein Schindluder mit dem Wissenschaftsanspruch treibt. Zu Punkt zwei: Erzählung ist ein weiter Begriff, welcher Diskursfelder übergreift; erzählend kann Steiner Diskursfelder überschreiten. Also erlaubt der Begriff, sowohl über Naturwissenschaften nach deren Regeln, über Ästhetik nach ihren Regeln, ebenso über Religion und Esoterik zu sprechen und nicht nur von einem Diskursfeld aufs andere zu wechseln, aber Verwechslungen zu vermeiden und Vergleiche anstellen zu können. Zu Punkt drei: Erzähler ist ein plausibles Konzept der Person Rudolf Steiners als einem Wissenschaftler, von dem man mehr erwarten darf als bloße Wissensvermittlung. Ein Erzähler vermittelt Erfahrung, die innerlich reicher macht, die berührt, verändert und die doch zugleich einen sachlichen, neutralen Ton anschlagen kann, der frei lässt, einen Spielraum der Distanz und Distanzierung eröffnet und insofern befreien kann.

      Das Konzept des Erzählers bürstet jenes des Charismatikers, der etwas erreichen will, indem er Herrschaft ausübt, gegen den Strich, weil es die Freiheit derjenigen, die zuhören, nicht nur voraussetzt, sondern fordert. Und das Konzept des Erzählers setzt jenes des Charismatikers nicht aus, schließt es vielmehr ein, insofern von der Erzählung bzw. dem Erzähler zwar Faszination und Begeisterung ausgehen, das Gewicht der Verantwortung für das Erzählte sich aber auf die Zuhörenden, die Anerkennenden, die Rezipienten der Erzählung verlagert. Der Erzähler führt zwar, indem er es ist, der die Geschichte erzählt. Aber ebenso sind es in einem umgekehrten Gestus die Lauschenden, die führen, weil sie es sind, die die Geschichte hören, d. h. sich entschieden haben, sie anzuhören, sie möglicherweise anzuerkennen und wertzuschätzen, die zustimmen, abwägen, zurückweisen, weitererzählen, bewusst anders erzählen, sich des Ursprungs ihrer Erzählung vergewissern, ihre Erfahrungen umsetzen.

      Die Wirkung des Erzählers ist per definitionem eine gebrochene, eine spielerische, eine im Zuhören ausgehandelte, während die des Charismatikers unmittelbar und direkt durchschlägt. Während der Typus des Charismatikers Gefolgschaft nach sich zieht, verlangt jener des Erzählers Offenheit und Verständnis. Der charismatische Erzähler, der verstanden wird, wird von den Zuhörenden selbstbestimmt verstanden.30 Bei allem nicht zu leugnenden Charisma Rudolf Steiners bleiben sein Werk und seine Wirkung ohne das Konzept des Erzählers unvollständig und unzureichend expliziert. Sein in einem Moment der Ungeduld und vielleicht der Verzweiflung gesprochener Satz, er wolle nicht verehrt, sondern verstanden werden31, könnte als Trennmaß zwischen dem Charismatiker einerseits und dem Erzähler andererseits herhalten, sofern wir überhaupt so strikt trennen wollen. Denn was spricht gegen charismatische Erzähler? Wie auch immer, hier geht es um die Kunst nicht so sehr des Verehrens als des Verstehens Steiners.

      Die Gesamtheit dieser Studien gliedert sich in drei Teile, die wiederum zusammen fünf Grundbegriffe bzw. Begriffsfelder entfalten. Der erste Teil widmet sich den beiden Grundbegriffen Dogma und Hypothese. Der zweite, mittlere Teil stellt einen Begriff bzw. eine Denkform dar, mit der sich ein Einstieg in esoterisches Denken vollzieht. Er steht in der Mitte dieser Studien und verbindet sich mit einem exemplarischen, stärker historisch orientierten Text zu Max Dessoir, der die schwierige Situation beleuchtet, eine einerseits souverän-kritische und zugleich verstehende Haltung zu entwickeln und durchzuhalten. Der dritte Teil stellt zwei neuere kulturwissenschaftliche Forschungsfelder vor, das der Performativität und das der Narrativität, die, im Unterschied zu den Begriffen Dogma und Hypothese, erst in den letzten Jahrzehnten Teil einer allgemein kulturwissenschaftlichen Forschung geworden sind. Sie werfen ein spannendes, aktuelles Licht auf Steiners Werk und ermöglichen ein neues Verständnis.

      Die Begriffe Dogma und Hypothese stehen zueinander komplementär, insofern sich Dogma auf überliefertes Lehrgut richtet und einen freien oder weniger freien Umgang nach sich zieht. Im Gegensatz zum Dogma ist die Hypothese von vornherein erfahrungsorientiert, sie muss nur in ihrem vorläufigen Charakter ernstgenommen werden. Während das Dogma vergangenheitsorientiert ist und sich eher mit Texten beschäftigt, ist die Hypothese an der je zukünftigen Erfahrung interessiert und hat ihre eigentliche Domäne in der Natur. Gleichwohl verbinden sich beide darin, dass erfahrungsgeleitete genauso wie überlieferungsorientierte Erkenntnis tendenziell Horizontüberschreitung, Neues, Verwandlung, Entwicklung bedeuten können. Die Hypothese könnte dem Dogma zeigen, dass es eine vorläufige Funktion hat, prinzipiell hinfällig ist und erfahrenden Nachvollzug fordert; das Dogma würde der Hypothese erklären, dass sie Studium und Wissen voraussetzt und – wie es selbst – behauptet, aber dabei enorm sensibel sein muss.

      Auch wenn der von Steiner als Selbstbezeichnung gebrauchte Begriff des »Hellsehers« vermuten lässt, dass es sich bei Theosophie und Anthroposophie um vorwiegend erzählerische, mitteilende Texte und Kontexte handelt, ist doch der Einstieg in die Theosophie für den Philosophen Rudolf Steiner fundamental eine Transformation des Denkens. Deshalb ist es wichtig, Denkformen zu erkunden, die spezifisch anthroposophisch sind bzw. die Steiners denkerische Transformation der Theosophie vor allem in den ersten Jahren aufzeigen. Insofern handelt es sich bei dem Kapitel über die Umkehr als Denkform um eine Studie zu Steiners »bricolage«32 im Aneignungsprozess der Theosophie, die ich im engeren Sinn als Arbeitsbegriff »kohärente Verformung« nenne. Umkehr ist hier ein Übergangsbegriff, der noch in der Philosophie wurzelt und zwar interessanterweise im künstlerischen Denken von Novalis, aber bereits ein das Begriffliche überschreitendes Denken ist und im spezifischen Sinn esoterisch wird, d. h. sich von der Sinneserfahrung in anderer Weise ablöst als der Begriff es tut. Während Dogma und Hypothese noch herkömmliche Begriffe sind, ist es die Umkehr nicht mehr. Hier wird es qualitativ übergängig. Die Studie zeigt indirekt auch, inwieweit der Ausdruck des »Hellsehens« eine terminologische Randerscheinung und unreflektierte Übertragung aus dem Kontext des Spiritismus auf den des esoterischen Denkens darstellt. Areale des »Hellsehens« wären als im engeren Sinn narrative Mitteilungen in Steiners Werk einzugrenzen und ins Verhältnis zu setzen zum Bereich der »Geistesforschung« oder der »Geheimwissenschaft«, die auf esoterischem Denken aufruht. »Das Denken des Geheimwissenschafters [sic]«, so Steiner in einem seiner frühen esoterischen Vorträge, »ist ein anderes, es ist ein solches, das Einheiten ergreift, große Zusammenhänge auf einmal überschaut, es ist durchlebte Erfahrung, ein Schauen von höheren Wirklichkeiten. Der Mensch macht sich einen gemeinschaftlichen Begriff aus Einzelheiten. Der Geheimwissenschaftler bekommt einen intuitiven Begriff auf einmal durch innere Erfahrung und ist nicht darauf angewiesen, soundso viele einzelne Erfahrungen zu machen.«33 Mit dieser typologischen Unterscheidung, die das intuitive Denken dem empirischen gegenüberstellt, haben wir es zum einen genauer mit der Charakterisierung eines Übergangsfeldes zu tun, und zum anderen mit einer anfänglichen Erläuterung von Steiners Methode überhaupt. In diesem Feld ist Umkehr ein zentraler – oder möglicherweise der zentrale – Begriff.

      Der Beitrag zu Max Dessoir und Rudolf Steiner, ein Exkurs in historischer Hinsicht, zeigt an einem prominenten Beispiel

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