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Umgang mit dem Werk Rudolf Steiners sind es oft unausdrückliche Konzepte, die unsere Rezeption leiten. Ein solches Konzept ist das des »Hellsehens«. Damit ist etwa gemeint, dass Steiner mehr und anderes sieht oder weiß als wir selber und dass wir uns deshalb auf Steiners »Mitteilungen« oder »Angaben« als eine besondere Wissensquelle beziehen können. Dieses Wissen ist unantastbar, weil wir selber als Rezipienten nicht mitvollzogen haben, wie es zustandekommt und über die entsprechenden Wahrnehmungen nicht aus eigener Hand verfügen.

      Das unmittelbare Vorbild von Steiners Wissensgenerierung scheint die spiritistische Seance zu sein, also eine quasi experimentelle Situation, in der alles, was an Übersinnlichem mitgeteilt wird, in genauer Analogie erscheint zur sinnlichen Welt oder mehr noch: als sinnliche, materielle Wirkung verstanden wird. Hierin liegt das naturalistische Missverständnis, das auch dann noch wirksam sein kann, wenn man sich dem spiritistischen Konzept fern fühlt. Übersinnliches wird dann mit Sinnlichem gleichgesetzt und Steiner verkommt so zum Lieferanten von »Mitteilungen« aus der »geistigen Welt«.86

      Um dieses Missverständnis zu vermeiden möchte ich dem Konzept des »Hellsehers« dasjenige des »Geistesforschers« gegenüberstellen. Der Forscher, das versteht sich, wird nicht unvermittelt zu seinen Tatsachen kommen wie der Hellseher. Er wird vielmehr einen vermittelten Prozess durchlaufen, in dem deutlichere Erkenntnisse undeutliche ersetzen; der von Revisionen, Geduld, Studium, Hoffnungen und Enttäuschungen durchzogen sein wird; ein Prozess überdies, der sprachlich oder zumindest symbolisch vermittelt ist und der deshalb auch der Deutung bedarf und somit Mehrdeutigkeiten und Perspektivität einschließt. Auch hier spielt als Erfahrungsprinzip die »Schau« eine unverzichtbare Rolle. Aber sie ist unreduzierbar eingebettet in den Forschungsprozess im Sinne der jeweiligen Überschreitung des diskursiven Vorgehens und des Rückbezugs auf dieses. Im Unterschied zum Hellseher arbeitet ein Forscher mit Hypothesen.

      Wenn ich den Typus des Geistesforschers im Folgenden anhand von Steiners Verwendung des Begriffs der Hypothese erläutere, dann treten vor allem drei Konsequenzen in Erscheinung. Zunächst wird die jeweilige und nicht bloß an den Forscher delegierte Erfahrungsbezogenheit aller geisteswissenschaftlichen Aussagen angesprochen: Hypothesen sind keine simplen Mitteilungen, sondern zu bestätigende, nachzuvollziehende und in diesem Sinn problematische Aussagen. Sodann wird ihr unsicherer und provisorischer Status deutlich: Hypothesen sind keine unverrückbaren Grundsätze, sondern immer vorläufige, unsichere und revidierbare Aussagen. Und schließlich wohnt ihnen ein mehr oder weniger subtiler Aufforderungscharakter inne. Er sagt: Überprüfe uns, mache mit uns Erfahrungen, verlasse dich nicht auf uns! Hypothesen sind also auch performativ. Es sind sensible Behauptungen, deren Status sich als unsicher und irritierbar, deren Eigenart sich als erfahrungsoffen und empfänglich zeigt. Im semantischen Feld, das sich für die Übersetzung des Ausdrucks »Hypothese« anbietet, bevorzuge ich damit das Wort Behauptung mit seiner willentlichen Komponente. Die ebenfalls mögliche, eher »apollinische« Rede von Annahme oder unbewiesener Voraussetzung zeigt diese Komponente weniger.87 Sie wird indessen in der zeitgenössischen Literatur in Steiners Umfeld bevorzugt.88 In der dynamischen Willensbezogenheit tritt kontrastiv ein für Steiner spezifischer Zug zum Vorschein.

      In der folgenden Darstellung und Diskussion der Funktion der Hypothese im Werk Steiners werfe ich zunächst einen Blick in die Entstehungsgeschichte der Steiner’schen Theosophie nach der Jahrhundertwende, innerhalb derer der Begriff der Hypothese als hermeneutisches Angebot in Erscheinung tritt. Von da aus verfolge ich einige prägnante Verwendungen des Begriffs in seinem Werk zwischen der frühen Goethe-Edition und späten Vorträgen. Dann erprobe ich den Begriff der Hypothese an einem Beispiel, dem theosophischen Topos »Lemurien«. Zum Abschluss führe ich aus, dass in den von Steiner beschriebenen drei spirituellen Erkenntnisstufen »Imagination«, »Inspiration« und »Intuition« das hypothetische Moment erscheint und dass es in diesem subtilen Kontext auch einer Hermeneutik des Irrtums bedarf.

      Ab November 1903 führte Steiner in seiner theosophischen Zeitschrift »Lucifer-Gnosis« die Rubrik Fragen und Antworten ein, in der er auf besondere Nachfragen oder Einwände einging, die sich regten oder die repräsentativ waren. Im Mai-Heft 1905 wurde die Frage des »Personenkultus in der theosophischen Bewegung« aufgegriffen. Personenkult könne nur ein Missverständnis sein, führt Steiner in seiner Antwort aus. Allerdings eine Art graduelles Missverständnis. Denn je weniger bei einem Okkultisten Personenkult zu finden sei, ein umso »besserer« Okkultist sei er (GA 34, 386). Es gebe immer »Mittel und Wege« zu prüfen, was ein Okkultist sagt und damit jeden Personenkult zu vermeiden. In diesem Sinn sei eine okkulte Mitteilung zunächst auch nicht anders denn als Erzählung zu verstehen. Eine Erzählung wird zunächst auf ihre Kohärenz hin verstanden, nicht aber auf ihren Wirklichkeitsgehalt hin geprüft, weil die Vergleichbarkeit der Erfahrung zunächst fehlt. »Derjenige, welcher die Mitteilungen macht, will … nicht anders wirken als ein Erzähler. Er sagt: ich habe dies oder jenes erfahren, oder mir ist von solchen, die es wissen können, dies oder jenes mitgeteilt worden. Ein gesunder, gerader Verstand, eine wahre Empfindung im Zuhörer wird zunächst zuhören, das heißt weder blind glauben noch blind kritisieren« (386).

      Hier ist, anders als in weiteren Passagen der Zeitschrift, nicht der aktiv denkende Nachvollzug angesprochen, sondern das stille, sensible Zuhören, das sich zunächst eines Urteils ganz enthält. Zuhören heißt, das Gehörte nicht sofort durch eine eigene Meinung zu verdrängen, sondern offen für die Geltungsmöglichkeit des Gehörten zu sein. Dem zuhörenden Raum-Geben als Form der Entgegennahme entspricht auf der anderen Seite als Genre die Erzählung. Eine Erzählung ist nicht in erster Linie begrifflich-philosophisch strukturiert, sie wird vielmehr eine in sich zusammenhängende Geschichte entfalten. Auch die Erzählung in diesem Sinn verweist auf einen prüfenden inneren Mitvollzug. Auch sie hat eine Funktion. Sie will im Kontext Steiners nicht auf historische Fakten hinweisen, sondern auf eine Art von Lebenswahrheiten, die durch die Erzählung selber oft erst sichtbar oder denkbar werden. In dieser heuristischen (= Finden machenden, orientierenden) Funktion wird die Erzählung, insofern sie nicht nur gehört, sondern geprüft wird, zur Hypothese.

      Denn auch wenn die erste Form der Rezeption theosophischer Aussagen das dezidierte Anhören sein soll, wird doch die Prüfung nicht endlos aufgeschoben, sie ergibt sich in der Folge. Nach welchem Kriterium aber wird geprüft? Und was für einen Wahrheitsbegriff legt Steiner dabei zugrunde? In der unmittelbaren Fortsetzung des oben angeführten Zitates setzt er ein Verständnis von dem, was wahr sei, bereits voraus: »Das Wahre wirkt einleuchtend und aufklärend, das Falsche stößt zurück und klärt nichts auf. Vom Wahren sagt sich der Zuhörer oder Leser: Ja, durch das, was mir da mitgeteilt wird, kann ich die Tatsachen der Natur und des Lebens begreifen; wenn das aber nicht wahr wäre, was da gesagt wird, bleiben mir diese Tatsachen unverständlich. Dieses Verhalten zu einer Lehre kennt auch die anerkannteste Wissenschaft; man nennt da solche Lehren brauchbare Arbeitshypothesen« (386f.).

      Die Wahrheit theosophischer Sätze zeigt sich, indem sie angesichts der Tatsachen der Natur und des Lebens sich als plausibel und aufschlussreich erweist, die Falschheit aber darin, dass das nicht so ist. Dieser Wahrheitsbegriff Steiners ist stark empfindungsorientiert (»stößt zurück«). Vor allem ist er nicht primär wissenschaftlich, sondern lebenspraktisch gedacht. Steiner formuliert hier erneut jene pragmatische Einstellung gegenüber den Wissenschaften, die er wenige Jahre zuvor in den Diskussionen im Giordano Bruno-Bund, jenem naturwissenschaftlich-monistischen Debattierklub der Jahrhundertwende, vertreten hatte. Die »Frage nach der Gültigkeit der Weltanschauung«, resümiert er dort, sei »vor dem Forum des Lebens, nicht vor dem Forum der Erkenntnis zu entscheiden« (GA 51, 310). So wundert es nicht, dass Steiner das Wort von den Arbeitshypothesen in unserem Kontext auch sogleich ausweitet in das von den »brauchbaren Lebenshypothesen« (GA 34, 387).

      In seinen Erläuterungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften definiert Steiner 1887 in Goethes Sinn: »Eine Hypothese ist eine Annahme, die wir machen und von deren Wahrheit wir uns nicht direkt,

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