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      Abbildung I: Tafel XV aus der 7. Auflage von Haeckels »Natürliche Schöpfungsgeschichte« von 1879 [1. Aufl. 1868]; in den folgenden Auflagen wird das Paradies ins eurasische Festland versetzt und die Landbrückentheorie aufgegeben. Siehe Abbildung II.

      Abbildung II: Tafel XXX in der 11. »verbesserten« Auflage von Haeckels »Natürlicher Schöpfungsgeschichte« von 1911: die Landbrückenhypothese wird im Bild fallengelassen, wenn sie auch im Text (bis zur letzten Ausgabe) im Prinzip aufrechterhalten wird. Dort heißt es jetzt: »Wenn wir dieses Lemurien als Urheimat annehmen wollten, so ließe sich daraus am leichtesten die geografische Verbreitung der verschiedenen Menschenarten durch Wanderung erklären. Indessen sind in letzter Zeit gegen diese, auch von mir früher vertretene Hypothese erhebliche Bedenken, besonders von geologischer Seite geltend gemacht worden« (S. 757).

      Steiner weiß indessen – sich des unterschiedlichen Publikums wohl bewusst – zwischen einer naturwissenschaftlichen Hypothese und einer geisteswissenschaftlichen Schilderung klar zu unterscheiden. Dennoch werden aber besonders in seinen mündlichen Darstellungen die Ebenen allenthalben vermischt, wenn er sich auf theosophische Narrative bezieht, die wenig skrupulös als »Wahrheiten« geschildert werden. In der Tendenz will Steiner seelische, spirituelle Vorgänge schildern. Er legt Wert darauf, dass es sich zugleich um reale, keineswegs bloß symbolisch gedachte Vorgänge handle, »dass ich Lemurien für eine richtige Ortsbestimmung und kein Symbol halte« (GA 21, 4l ff.). Wie aber, wenn seine Geisteswissenschaft nachhaltig etwas behauptet, das den naturwissenschaftlichen Tatsachen nur als vorübergehende Hypothese bzw. nach heutigem Wissensstand nicht entspricht – wie der »Kontinent Lemuria«? Hier ist die aktuelle naturwissenschaftliche Aussage überzeugend, die theosophische oder »geisteswissenschaftliche« ist es nicht.103

      Die Hypothesenhaftigkeit naturwissenschaftlicher Theorien steht, auch für Steiner, außer Frage. Aufgrund sinnlicher Daten werden Theorien formuliert, errechnet und modelliert. Sie können sich im Prinzip ständig ändern, können modifiziert und verbessert werden. Daraus ergibt sich für Wissenschaftler und Forscher eine Haltung, die in Bezug auf ihre Ergebnisse umsichtig und diskursiv ist und mit Mehrdeutigkeiten leben kann: Es muss nicht zwangsläufig nur eine Wahrheit geben. Der Physiker Max Born (1882–1970) resümiert in diesem Sinn den positiven Aspekt der entsprechenden Unsicherheit: »Ich glaube, dass Ideen wie absolute Richtigkeit, absolute, endgültige Wahrheit usw. Hirngespinste sind, die in keiner Wissenschaft zugelassen werden sollten … Diese Lockerung des Denkens scheint mir als der größte Segen, den die heutige Wissenschaft uns gebracht hat. Ist doch der Glaube an eine einzige Wahrheit und deren Besitzer zu sein, die tiefste Wurzel allen Übels auf der Welt.«104 So ist der Hypothese auch im Umgang mit Steiners Werk (nicht nur in Steiners Werk) ein Verdienst zuzuweisen. Sie vermittelt nämlich eine Haltung der erfahrungsbezogenen Offenheit, die hinlänglich auf sich selbst vertrauend auch die nötige Lockerheit aufbringt, nicht verbissen am Wort Steiners festhalten zu müssen, sondern erfahrungsoffen und damit selbstständig seine Thesen zu überprüfen, zu verwerfen, zu vertiefen, wertzuschätzen. Eine in diesem Sinn lockere Haltung ist alles andere als beliebig oder gleichgültig, vielmehr ist sie die Voraussetzung für eine strenge und als solche immer offene Auseinandersetzung.105

      Wie verhält es sich mit der Hypothesenhaftigkeit geisteswissenschaftlicher Aussagen? Ihr Erfahrungsfeld findet sie nicht in der Natur, sondern im Feld des Spirituellen. Es geht primär um Denkprozesse und »innere« Vollzüge. Das Bilden von Hypothesen selber ist so ein Vollzug. Es ist Denken. Mit dem Bilden von Hypothesen befinden wir uns bereits im Feld geisteswissenschaftlicher Erfahrungen. Und Hypothesen haben den Charakter von Begriffsbeziehungen und Ideen, sind in sich figurativ und prozessual und wollen innerlich tätig erprobt werden. Von daher ist eine nüchterne Gleichgültigkeit nicht selbstverständlich, wird doch immer schon ein Anteil Wille zum Aufbau einer hypothesenhaften Vorstellung benötigt. Umso nötiger also das lockere, sachliche, erlebende Gegenüberstellen.

      Als ein Beispiel greife ich zunächst auf Steiners erste Schilderung von »Lemurien« zurück. Wenn ich mir die ab 1904 geschriebenen Texte durchsehe, dann fällt mir zunächst ihr erzählerischinnerlicher Stil auf, der sich teilweise auf das Niveau der Evolutionsbiologie begibt (GA 11, 49 f.), größtenteils seelische Vollzüge wie die keimhafte Entstehung von Phantasie, Gedächtnis, erster Moralbegriffe und Sprache zu schildern versucht und zeitgebundene Gender-Themen aufgreift bei einer klaren Dominanz der Rolle der Frau gegenüber dem Mann (mit schlichten Stereotypen, in denen sich die theosophische Szene der Jahrhundertwende abbildet). Die starke Willenskraft und -schulung, die den »lemurischen« Menschen zugeschrieben wird, erinnert in der Schilderung an eine gesteigerte Darstellung der spartanischen Kultur (ebd. 46 f.) und stößt mich in ihrer triefenden Sentimentalität und Drastik ab. Auch die narrative Schilderung von Priesterinnengesang (ebd. 55 f.) wirkt wie eine Erzählung aus keltischem Kontext und erinnert an Werke der Fantasy-Autorin Marion Zimmer Bradley (1930–1999). Der »Untergang Avalons« in dem Bestseller von Zimmer Bradley106 hat durchaus Ähnlichkeiten mit den theosophischen Narrativen von »Lemurien« und »Atlantis«. Immerhin verzichtet Zimmer Bradley konsequent auf naturwissenschaftliche Bezüge, hat aber für die Ausarbeitung ihrer fiktiven Erzählung intensive Studien der keltischen Kulturgeschichte und des Artus-Motivs betrieben.107

      Indem ich diese Schilderungen so wiedergebe, erwähne ich also bereits die Grenzen der Plausibilität, die sie bei mir erzeugen. Unter dem Gesichtspunkt der Textsorten ist erneut darauf zurückzukommen. Aber ich habe immerhin, wie beim Lesen einer Partitur, einen inneren Prozess durchgemacht – insbesondere, wenn ich mich auf die Kerngedanken besinne. Er hinterlässt einen geschmeidigen, beweglichen Charakter. Hypothetisch – d.h. jetzt: ohne dem einen Wirklichkeitscharakter zuzuschreiben – habe ich versucht, mir ein Stück der Menschheitsgeschichte innerlich vorzustellen, wie Steiner es meint. Ich bin in einen Dialog eingetreten. Ich verstehe etwas von dem, was Steiner sagen möchte. Gleichwohl ist es eine Erzählung, die ich wieder ablege und die mir insbesondere auch dann wenig plausibel erscheint, wenn ich sie mit der naturwissenschaftlichen Narration der Menschheits- und Erdgeschichte in Übereinstimmung zu bringen versuche. Denn eine Übereinstimmung ergibt sich nicht.108 Es sind zwei heterogene Geschichten, über deren unterschiedliche Qualität und Genese ich mir im Klaren sein muss. Steiners Erzählung ist in diesem Kontext so etwas wie eine Serie von Behauptungen, die für eine andere Sichtweise sensibilisiert. Mehr nicht. Aber immerhin. Der Rest bleibt historische Kontextualisierung.

      Eine geistesforscherische Behauptung oder eine Serie von Behauptungen, so halten wir fürs erste aus den gemachten Beobachtungen fest, wird in sich einen ästhetischen, sensibel erfahrbaren Charakter haben.109 Geisteswissenschaftliche Hypothesen sind in der Tat – auch wenn sie rein sprachlich formuliert werden – prozessual-figurativ und verweisen in ihrem sinnlichen Erfahrungsgehalt in sich über sich hinaus. Der spirituelle Erfahrungsgehalt ergibt sich aus der Konstellation des sinnlichen. Er ist in der Art der Formulierung einer geisteswissenschaftlichen Hypothese schon enthalten.110

      Ich erlaube mir, das an zwei Fotografien aus dem Werk Deduschka des Fotografen Achim Hatzius zu zeigen. Es handelt sich um zwei Bilder einer Reihe von künstlerisch-dokumentarischen Fotografien, in der die in der Stalin-Ära entstandene Moskauer Lomonossov-Universität dem Dornacher Goetheanumbau gegenübergestellt wird. Ich wähle die beiden Bilder dornach _19_41 und moskau_28 aus, die Einblicke in Wissensräume gewähren, die sinnlich nicht direkt zugängliches Wissen versinnlichen und damit zwei verschiedene Arten von »Wissensmodellen« zeigen (siehe Abbildungen III/IV). Am Beispiel der Universität sieht man in und vor einem Schaukasten Atommodelle, also farbige Kugeln in Konstellationen, die kleinste, als solche unsichtbare Entitäten sichtbar und vorstellbar machen. Im Goetheanum

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