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Gemeinderats- und Kreistagssitzungen über sich ergehen lassen zu müssen. Andererseits freilich, so hatte er schon oft erfahren müssen, waren die Abonnenten der Zeitung eher darauf bedacht, dass man das heimatliche Nest nicht beschmutzte. Wenn er allzu detailliert über Verhandlungen des örtlichen Schöffengerichts berichtete, war er nicht selten von aufgebrachten Lesern heftig kritisiert worden. Ganz zu schweigen, wenn es um große Fälle vor dem Landgericht Ulm ging, wo die schwerwiegenden Verbrechen verhandelt wurden. Nur zu gut war ihm aus den Anfangszeiten seiner Göppinger Tätigkeit ein Mordprozess gegen einen Mann in Erinnerung, der in einem alten Bauernhaus am Rande der Schwäbischen Alb eine ältere Frau vergewaltigt und umgebracht hatte. Allein das Wort Sperma, das Sander erwähnt hatte, weil es dabei um eine wichtige, belastende Spur des Täters gegangen war, hatte einige Leser geradezu entsetzt, was sie in empörten Anrufen beim Redaktionsleiter zum Ausdruck gebracht hatten.

      Für Sander war seither klar: Die Leserschaft las zwar mit großer Begeisterung von Mord und Totschlag irgendwo auf der Welt, ja sog dann, wie er zu sagen pflegte, jeden Blutstropfen aus der Illustrierten oder dem Boulevardblatt heraus, aber wenn so etwas in der näheren Umgebung geschah, dann sollte das Heimatblatt geflissentlich Zurückhaltung üben. Dann hörte Sander häufig den Vorwurf, er sei schlimmer als die Bild-Zeitung. Er fragte sich in solchen Fällen, woher die Kritiker, die dieses Boulevardblatt mit Abscheu erwähnten, wohl ihr Wissen darüber bezogen, was schlimmer als die Bild-Zeitung sei.

      Ohne mediale Konkurrenz war in diesen Zeiten der Kontakt zur örtlichen Polizei noch unbürokratisch. Sander kannte viele Beamte und ging im Revier ein und aus, zumal zwar die zurückliegenden Jahre des RAF-Terrorismus bereits erste Sicherheitsmaßnahmen erkennen ließen, der Zugang ins Polizeigebäude jedoch meist problemlos möglich war. Sander wusste dies zu schätzen, steckte seine Nase auch nie in Dinge, die ihn nichts angingen, sondern beschränkte seine Besuche auf ein Mindestmaß und kam auch nie unangemeldet.

      Inzwischen pflegte er mit einigen Beamten ein freundschaftliches Verhältnis, das auch in private Aktivitäten mündete. So gab es eine Wandergruppe, die sich auf historische Pfade beschränkte und die Schauplätze des Ersten Weltkrieges in den Vogesen aufsuchte, geführt von einem Polizeibeamten, der sich auch fundiert mit dem deutsch-französischen Krieg in den 70er-Jahren des vorletzten Jahrhunderts auseinandersetzte. Sander war einige Male bei solchen Exkursionen dabei gewesen und hatte in der zerschundenen Landschaft die Überreste dieser schrecklichen Zeit gesehen: Bunker, Stacheldraht, Munition, die endlose Reihe von Soldatengräbern.

      An diesem Märzvormittag hatte er über eine neue Exkursion, die für den Herbst geplant war, sprechen wollen. In einem Büro, schräg gegenüber der Wache, saß er zwei altgedienten Beamten gegenüber, die er ihres bodenständigen und unkomplizierten Umgangs wegen sehr schätzte. Doch irgendetwas, so schien es ihm, war heute anders – als sei den beiden sein Besuch unangenehm. Der Ältere, ein großer, bärenstarker Typ, verließ einige Male den Raum und schloss nachdrücklich die Tür hinter sich, kam aber sofort wieder zurück, ebenfalls darauf bedacht, die Tür, die üblicherweise einen Spaltweit offen stand, sorgfältig wieder zu schließen. So recht wollte heute kein flüssiges Gespräch aufkommen. Der etwas Jüngere, hager und energiegeladen, war zwar bisher der engagierte Organisator der Vogesen-Exkursionen gewesen, doch an diesem Vormittag ließ er gleich gar kein Gespräch über die geplante Reise aufkommen. »Das können wir später in Ruhe besprechen. Wir haben noch Zeit. Jetzt ist März, und wir planen für September«, sagte er und wiederholte dies sinngemäß mehrere Male.

      Sander gab sich damit zufrieden und dachte, dass die beiden heute wohl dienstlich unter Druck stünden. Er verabschiedete sich deshalb schnell und trat in den dunklen und engen Vorraum der Wache hinaus. Dass dort mehr Uniformierte standen als üblich und dass deren Gespräche kurz verstummten, als er an ihnen vorbei zur Ausgangstür ging, kam ihm erst Stunden später seltsam vor.

      Dass er soeben hautnah an der größten Geschichte seines Journalistenlebens dran gewesen war, hatte er nicht ahnen können.

      12

      Es war kurz nach 10 Uhr, als Walser und Geiger in der Chefetage der Kreissparkasse eintrafen und sofort von Sekretärin Rüger in das Büro des Direktors geführt wurden. Die beiden Polizeibeamten, der eine uniformiert, der andere in Zivil, blickten auf vier erschöpft wirkende Männer. Seifritz saß kreidebleich hinter dem Schreibtisch, sein Vize und Landrat Doktor Paul Goes waren von ihren Plätzen auf der Polstergruppe aufgestanden. Auch Lackner, der hinzugerufen worden war, hatte sich erhoben, die zitternden Knie spürend.

      Die Atmosphäre frostig, die Begrüßung kurz und knapp. Der Landrat, ein quirliger schlanker Mann, in Ehren ergraut, bot den Beamten mit einer Handbewegung freie Plätze auf Ledersesseln an, und als sich alle gesetzt hatten, sah er sich veranlasst, die Gesprächsführung zu übernehmen. Walser und Geiger lauschten gespannt den Schilderungen und erfuhren, dass die Geiselnehmer inzwischen spurlos verschwunden waren, es aber von Seifritz’ Tochter noch kein Lebenszeichen gab.

      Dann versuchte Seifritz selbst, die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Stunden chronologisch darzulegen, immer wieder unterbrochen durch den Hinweis, doch nur aus Sorge um seine Tochter gehandelt zu haben.

      Die beiden Polizisten hielten sich mit Nachfragen zurück, um dem völlig erschöpften Bankdirektor ausreichend Gelegenheit zu geben, sich alles von der Seele reden zu können, was ihn bedrückte. Schließlich aber versuchten sie einfühlsam, Details zu den Tätern zu erfahren: Aussehen, Sprache, Kleidung. »Die haben sich unkenntlich gemacht«, stellte Seifritz fest. Lackner ergänzte: »Falsche Bärte, vermutlich Perücken. Und dann die Sonnenbrillen.«

      Walser resümierte, dass es offenbar so gut wie keine konkreten Ansatzpunkte für eine Fahndung gab. Solange auch der zur Flucht benutzte Mercedes des Sparkassendirektors nicht gefunden wurde, würde man sich mit den Ermittlungen äußerst schwer tun. Außerdem war ohnehin noch Zurückhaltung geboten. Zwar hatte sich Seifritz minutiös an die Bedingung gehalten, nicht vor 10 Uhr die Polizei zu verständen, aber Marion hatte sich bislang nicht gemeldet.

      13

      Marion stand einige Sekunden lang tief durchatmend vor der Hütte am Waldrand. Für einen Moment verspürte sie unendliche Erleichterung, doch dann befiel sie wieder die dumpfe Sorge um ihren Vater.

      Das Tageslicht blendete sie, und die bewaldeten Hänge verschafften ihr Gewissheit darüber, wo sie sich befand: irgendwo im Remstal, das sich vom Großraum Stuttgart in Richtung Aalen zog.

      Sie erinnerte sich, heute Früh in der Dunkelheit das Streulicht eines Ortes wahrgenommen zu haben. Vielleicht Schorndorf.

      Weil ihre Beine vom langen regungslosen Sitzen schmerzten, wirkten ihre Schritte unbeholfen. Als würde sie vom Unterbewusstsein vor etwas gewarnt, blieb sie sofort wieder stehen, um sich prüfend umzusehen. Doch da war niemand. Auch der Mann nicht, der erst vor wenigen Minuten verschwunden war. Aber die dichten Obstbaumreihen versperrten die Sicht.

      Am unteren Ende wurde die steil abfallende Wiese von einem Feldweg begrenzt, der sich durch diese Streuobstwiesenlandschaft weiter abwärts schlängelte.

      Marion wollte so schnell wie möglich weg, beschleunigte deshalb ihre Schritte, auch wenn die Füße wehtaten, aber jetzt beflügelt von dem Gedanken, ihrem Vater berichten zu können, dass alles ein gutes Ende genommen habe. Hoffentlich für ihn auch, flehte sie. Sie begann zu rennen, obwohl sie die nach vorne gefesselten Hände in der Bewegungsfreiheit behinderten.

      Als drei Personen auftauchten, die ihr entgegenkamen, stoppte sie abrupt ihren Lauf, weil ihr ein Gedanke durch den Kopf schoss: Komplizen der Gangster?

      Augenblicke später fiel ihr ein tonnenschwer Stein vom Herzen: Dem Äußeren nach zu urteilen, waren es wohl harmlose Spaziergänger. Aus Scham, sich als Opfer eines Verbrechens zu erkennen geben zu müssen, ließ sie ihre gefesselten Hände unter der Jacke verschwinden und erkundigte sich nach einer Telefonzelle, ohne in diesem Augenblick dran zu denken, dass sie gar kein Geld bei sich hatte. Doch die Schilderungen der Angesprochenen waren ohnehin wirr und ließen noch eine weite Wegstrecke befürchten, weshalb sie sich bedankte und einfach weiterging. Sie ignorierte die kritischen Blicke und nahm ihren Spurt wieder auf. Als zwischen den Obstbäumen die ersten

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