Скачать книгу

niemand daheim zu sein. Sie ging von Haus zu Haus, las das Straßenschild »Konnenbergstraße« und war sich noch immer nicht im Klaren, in welcher Gemeinde sie sich befand.

      An zwei Häusern hatte niemand geöffnet, auch die Sprechanlagen waren stumm geblieben. Erst beim dritten Gebäude hörte sie gleich nach dem Klingeln Schritte hinter der Tür. Sie verbarg ihre gefesselten Hände, weil sie niemanden erschrecken wollte. Als geöffnet wurde, versuchte sie, einer verdutzten Frau so ruhig wie möglich zu erklären, dass sie entführt worden sei und dringend telefonieren müsse.

      Die Angesprochene war von diesen Worten und dem verstörten Verhalten der jungen Frau völlig entgeistert, zögerte für einen Moment und wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Sie deutete irritiert auf das Telefon, das in der Diele auf einer Kommode stand. Marion ging dankend dorthin, blieb aber beim Telefon mit dem Rücken zu der Frau stehen, damit diese nicht sehen konnte, wie sie sich mit gefesselten Händen zitternd abmühte, die Wählscheibe für die Durchwahlnummer zum Büro ihres Vaters zu drehen.

      Die Hausbewohnerin war langsam in einen der Räume zurückgegangen, wo zwei Freundinnen, mit denen sie Kaffee getrunken hatte, bereits über die merkwürdige Besucherin rätselten.

      Während sich die Telefonverbindung nach Göppingen aufbaute, wurde sich Marion bewusst, dass sie ihrem Vater ihren Aufenthaltsort gar nicht würde nennen können. Sie rief deshalb in Richtung des Zimmers: »Entschuldigung, wo bin ich überhaupt?«

      »In Schorndorf, Konnenbergstraße«, kam es zurück.

      Es vergingen endlose bange Sekunden, bis sich ihr Vater meldete und sie ihm dies mitteilen konnte.

      14

      Die kurze Ratlosigkeit, die sich unter den Männern in Seifritz’ Büro breitgemacht hatte, wurde von Chefsekretärin Rüger unterbrochen, die den Direktor ins Vorzimmer rief. Ein wichtiger Anruf, hatte sie gesagt.

      Walser und Geiger verfolgten wortlos, wie Seifritz nach draußen ging. Auch Landrat Doktor Goes und der Direktionsvize schwiegen. Lackner hatte sich ohnehin die meiste Zeit zurückgehalten. Bange Minuten verstrichen, bis Seifritz tief durchatmend wieder erschien: »Meine Tochter ist frei.«

      Er fühlte sich von der bleiernen Last befreit und endlich an keine Abmachungen mehr gebunden. Ausgelaugt sank er in seinen Bürosessel.

      Noch immer fiel es ihm schwer, für das Schreckliche der vergangenen Stunden eine logische Erklärung zu finden. Vielleicht war es sein früherer Beruf als Staatsanwalt, der ihn zur Selbstdisziplin mahnte, was in solchen Momenten bedeutete: kein emotionales Vorgehen. Alles schien gut zu sein: die Tochter in Schorndorf in Sicherheit, Lackner auch wieder hier.

      Walser wechselte ein paar Worte mit Landrat und Kripochef und ging ins Vorzimmer, um die Landespolizeidirektion zu verständigen. Der Ort, an dem die junge Frau festgehalten worden war, konnte auch die mögliche Fluchtrichtung der Gangster vermuten lassen: ins Remstal. Routinemäßig löste Walser Alarm Dynamit aus, wie im Polizeijargon eine Großfahndung bezeichnet wurde.

      Zwei Stunden, nachdem sich Marion gemeldet hatte, konnte Seifritz sie noch immer nicht in die Arme schließen. Denn trotz des erleichternden Telefonats hatten die Ermittler auf Nummer sicher gehen und zunächst abklären wollen, ob Marion tatsächlich nicht mehr in der Gewalt der Kidnapper war. Viel zu unübersichtlich war die Situation. Die Darstellungen des Bankdirektors und die Schilderungen Lackners, die Walser an die Landespolizeidirektion und an seine Göppinger Kriminalbeamten weitergeleitet hatte, mussten sorgfältig geprüft werden.

      Dann ein anonymer Anruf für Seifritz: Eine Männerstimme teilte mit, wo die gekidnappte Tochter zu finden sei. Offenbar wollten die Geiselnehmer sichergehen, dass ihr Opfer unversehrt freikam.

      Als die ersten Einsatzkräfte aus Stuttgart im Chefbüro eintrafen, wunderte sich die Sekretärin angesichts der bereits verstrichenen Zeit über die Frage eines der Beamten: »Ist die Fahndung schon eingeleitet?« Tatsächlich war es ihr ohnehin so erschienen, als hätten die Ermittlungen nicht mit dem nötigen Nachdruck begonnen. Aber vielleicht, so überlegte sie, war sie einfach viel zu ungeduldig und von den Ereignissen der vergangenen Stunden nervlich zermürbt.

      Immerhin mutete das ziemlich irreale und verworrene Geschehen wie das Drehbuch für einen Thriller an. Niemand hätte bis dahin ein solch raffiniertes und kaltblütig verübtes Verbrechen in der Provinz für möglich gehalten. Und doch sollten sich in diesen Zeiten große Kriminalfälle auf rätselhafte Weise sogar noch häufen.

      Kein Wunder, dass es viele Gerüchte gab und hinter vorgehaltener Hand allerlei Verschwörungstheorien kursierten. An den Stammtischen wurden mysteriöse Verbindungen diskutiert und sogar konstruiert. Woran gewiss die häppchenweise und geheimnisvolle Informationspolitik der Behörden nicht ganz unschuldig war. Der örtliche Lokaljournalist Georg Sander, damals gerade 31 Jahre alt, würde noch lange Zeit darüber berichten können.

      15

      Innerhalb der Polizeidirektion Göppingen verbreitete sich die Nachricht, die Walser von der Kreissparkasse mitgebracht hatte, binnen weniger Minuten. Die Landespolizeidirektion zog die Ermittlungen angesichts der Größe des Falles an sich und bildete eine Sonderkommission, die in Göppingen untergebracht wurde. Streifenwagen durchkämmten das Stadtgebiet und das Umland nach Seifritz’ Mercedes, mit dem die beiden Kidnapper verschwunden waren. Und schon bald ließ sich der Leiter der Sonderkommission, Hartmut Zeller, in Begleitung zweier Kollegen von dem erschöpften Bankdirektor vor Ort die Situation schildern. Seifritz saß, von den Ereignissen der letzten 18 Stunden gezeichnet, auf seinem Bürosessel, während die Beamten und Lackner auf der Besprechungscouch Platz genommen hatten und die Sekretärin Kaffee brachte. Dem Bankchef fiel es sichtlich schwer, mehrfach den chronologischen Ablauf zu wiederholen, während seine Gedanken um seine Tochter Marion kreisten, mit der er zwar am Telefon gesprochen hatte und die von der Polizei hätte abgeholt werden sollen. Aber die Ermittler hatten beschlossen, behutsam vorzugehen und zunächst einige starke Einsatzkräfte zu der besagten Adresse zu schicken, weil angesichts des kaltblütigen Vorgehens der Gangster nicht auszuschließen war, dass sich dort die Täter mit ihr verschanzt hatten. Immerhin hätte die junge Frau auch von den Kidnappern zu dem Telefonat mit ihrem Vater gezwungen worden sein können.

      Die dortige Hausbewohnerin war von den Schilderungen Marions verstört und völlig verunsichert. Als endlich Polizisten an der Haustür erschienen, ließ sie sich vorsorglich deren Dienstausweise zeigen. Sie wollte nicht auch noch Opfer falscher Ermittler werden. Allerdings hatte sich die Lage bereits entspannt, nachdem der anonyme Anruf mit dem Hinweis auf das Versteck eingegangen war.

      Es war bereits früher Nachmittag, als Marion nach einer Tasse heißem Kaffee völlig in sich versunken in einem Streifenwagen saß und Richtung Göppingen gebracht wurde.

      16

      Die Beamten in Seifritz’ Büro hatten Mühe, die bankinternen Abläufe nachzuvollziehen. Das würde noch ausführliche Vernehmungen und Protokolle nach sich ziehen, seufzte Soko-Chef Hartmut Zeller und sah im Geiste schon den unseligen Papierberg mit all den Aktenordnern vor sich. Seifritz, der am Ende seiner physischen und psychischen Kräfte zu sein schien, erläuterte zum wiederholten Mal, wie die Geldübergabe im dritten Untergeschoss vonstattengegangen war, und dass die Täter darauf bestanden hätten, Lackner als neue Geisel mitzunehmen. Unterbrochen wurde er von einem der Kriminalisten, der sich als Kommissar Klaus Biegert vorgestellt hatte, und auf den abseits sitzenden Kassenangestellten deutete: »Wieso haben die gerade Sie mitgenommen, Herr Lackner?«

      Lackner war erschrocken, sah hilfesuchend zu Seifritz, der jedoch ebenfalls konsterniert zu sein schein und nur wortlos mit den Schultern zuckte.

      Soko-Leiter Zeller spann den Faden weiter: »Wäre denn außer Herrn Lackner auch noch jemand anderes infrage gekommen, der den Scheck für die Landeszentralbank hätte unterschreiben können?«,

      Die beiden Angesprochenen waren auf diese Frage offenbar überhaupt nicht gefasst gewesen. »Ja, es hätte noch jemanden gegeben«, erklärte Seifritz schließlich. »Aber mir war klar, dass Herr Lackner bereits so früh morgens da sein würde. Deshalb hab ich ihn gerufen.«

Скачать книгу