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Front ohne Helden. Franz Taut
Читать онлайн.Название Front ohne Helden
Год выпуска 0
isbn 9783475544927
Автор произведения Franz Taut
Жанр Языкознание
Серия Zeitzeugen
Издательство Bookwire
Der Posten vor dem Schulhaus, das knapp fünfzig Meter entfernt war, rief Ehrenfeld an.
»Halt! Parole!«
»Mackensen.«
Der Posten gab den Eingang zum Schulhaus frei. Als er den Rittmeister erkannte, nahm er Haltung an. Ehrenfeld jagte die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Er klopfte an die Tür, an der das Schild mit dem Aufdruck »Ia-Geschäftszimmer« befestigt war.
Ehrenfeld betrat den Raum, an dessen einer Wand einfache Schulbänke aufgetürmt waren. Der Gefreite, der Telefonwache hatte, sprang auf. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Verbindungstür zum Nebenraum. Im Türrahmen stand Major von Talvern, und hinter ihm zeigte sich Leutnant Walter, der O I.
»Sie, Herr von Ehrenfeld?«, rief Talvern verwundert. »Und so kriegerisch, mit Maschinenpistole! Was verschafft uns Ihren Besuch zu so später Stunde?«
»Unteroffizier Doroschenko ist tot, Herr Major.«
»Doroschenko – wer ist das? Bitte drücken Sie sich etwas deutlicher aus, Herr Rittmeister!«
Talverns Stimme klang gereizt. Er hatte Dringendes zu tun. Niemand konnte sagen, wie viel für die Division, ja, womöglich für die ganze Front von der Planung dieser Nacht abhing.
Rittmeister von Ehrenfeld verbeugte sich steif.
»Verstehe, Herr Major. Bin etwas konsterniert. Dachte an Partisanen. Doroschenko war einer der zuverlässigsten Gruppenführer unserer Hiwi-Einheit. Ich fand ihn schwer verwundet vor der Tür meines Quartiers. Ehe er sprechen konnte, ist er gestorben. Beim Kolchos muss etwas passiert sein, Herr Major. Dachte, ich sollte als Erstes hier Meldung von dem Vorfall machen.«
Talvern nickte. »Richtig.« Schon war er beim Feldfernsprecher, hob den Handapparat ab, drehte die Kurbel und verlangte »Ringstraße«. Es war der Deckname der Feldgendarmerie.
»Schicken Sie zwei Mann zum Kolchos«, befahl er, als die Verbindung hergestellt war. »Lassen Sie feststellen, was dort anliegt. Einer der Russen, Unteroffizier Doroschenko, ist tödlich verwundet worden.«
Talvern legte auf. Er wandte sich zu Ehrenfeld.
»Partisanen«, sagte er kopfschüttelnd, »nein, ich glaube viel eher an etwas anderes.«
»Herr Major glauben, dass meine Russen gemeutert haben?«, fragte Ehrenfeld betroffen.
Talvern wiegte den Kopf.
»Das wäre auch möglich. Aber ich befürchte, dass es den Brüdern hier zu ungemütlich wurde. Dass sie sich empfohlen haben, Herr Rittmeister. Und das wäre kein gutes Zeichen.«
»Das – das wäre unfassbar, Herr Major«, stammelte Ehrenfeld. »Wenn Herr Major gestatten – ich will mich selbst vergewissern.«
Aufgeregt verließ der Rittmeister die Abteilung Ia. Wenig später klingelte der Fernsprecher. Hauptmann Eyrich, der Chef der Feldgendarmerie, bestätigte Major von Talverns Befürchtung: Die Ost-Kompanie war mit Waffen, Munition und der gesamten sonstigen Ausrüstung aus Schepetowka verschwunden. Eyrich sprach die Vermutung aus, der ukrainische Unteroffizier habe sich dem Ausbruch widersetzt und sei von seinen Landsleuten überwältigt worden.
Talvern rief im Quartier des Divisionskommandeurs an.
»Die Hiwis sind fort«, sagte er, als General Körner sich mit verschlafener Stimme meldete. »Wir wissen ja, der Russe hat den sechsten Sinn für Neuigkeiten. Wir haben jetzt Mitternacht. In sechs oder sieben Stunden werden wir mehr wissen. Aber es wird nichts Gutes sein, Herr General.«
Um fünf Uhr morgens erreichte Wachtmeister Fendt, Hauptmann Martins Beauftragter, den mit Schnee bedeckten Erdbunker, der dem Stab des Bataillons »Derrutti« als Unterkunft und Gefechtsstand diente.
Der Kübelwagen, mit dem Hauptmann Martin den Wachtmeister am vergangenen Abend zu den Italienern in Marsch gesetzt hatte, war in der Dunkelheit von der Rollbahn abgekommen und in einer tiefen Schneewehe stecken geblieben. Stundenlang hatten Fendt und der Fahrer des Chef-Kübels, der Obergefreite Erdmann, sich abgemüht, bis das Fahrzeug wieder flott war. Fendt hatte zunächst erwogen, sogleich zur Batterie nach Lysselkowo zurückzukehren, doch anscheinend lag dem Batteriechef sehr viel daran, zu erfahren, wie es vorn bei den Italienern aussah. Und da kaum zu erwarten war, dass der Nebel sich am Morgen lichten würde, und der Schneefall, der schon vor Stunden eingesetzt hatte, zudem ständig zunahm, war sicher nicht zu befürchten, dass man die Rückfahrt unter Feindeinsicht würde antreten müssen.
In dem Bunker, der in mehrere Räume abgeteilt war, wurde Wachtmeister Fendt, der über der Uniform den weißen Tarnanzug und darüber wie der Fahrer einen Wachmantel aus Schafspelz trug, von einem schwarzhaarigen Korporal empfangen.
Der Korporal sprach kein Wort Deutsch und Fendt kein Italienisch, aber so viel verstand der Italiener doch, dass der Deutsche den Capitano, der den Bataillonskommandeur vertrat, dringend sprechen wollte. Vielleicht hing es mit dem Überläufer zusammen, den man am vergangenen Nachmittag vereinnahmt und nach kurzem Verhör zum Regimentsstab in Marsch gesetzt hatte.
Der Korporal verschwand hinter einer Zeltbahn. »Pronto, pronto«, sagte er, als er wieder auftauchte. Wenig später kam Capitano Berti, ein groß gewachsener, sehr schlanker Offizier mit tiefschwarzem, glatt anliegendem Haar, hinter der Zeltbahn hervor. Er streckte Fendt seine Rechte entgegen.
»Molto bene! Ich habe schon nicht mehr mit Ihrem Kommen gerechnet. Man hat bei meiner Funkstelle angefragt.«
Sein Deutsch war mustergültig. Fendt atmete auf. Man brauchte keinen dieser lästigen Dolmetscher einzuschalten.
Plötzlich jedoch blieb Capitano Berti stehen. Seine Hand fiel herab. Sein scharf geschnittenes, längliches Gesicht, grell von der an einem Deckenbalken hängenden Benzinlampe beleuchtet, wurde maskenhaft starr.
In die Stille der Front, die auch während Fendts Fahrt durch Dunkelheit und Schnee nur zeitweilig durch einen Artillerieschuss unterbrochen worden war, schnitt jäh ein dumpf grollendes Donnergeräusch, gedämpft, wie aus großer Entfernung, aber deshalb nicht weniger drohend.
»Kalitwa«, murmelte der Capitano zwischen den Zähnen, »das muss bei Kalitwa sein.«
Kalitwa, fragte sich Fendt, war das nicht ein Ort westnordwestlich, stromaufwärts am Don, etwa hundert Kilometer entfernt?
»So weit trägt der Schall nicht«, sagte er.
Das Geräusch pflanzte sich fort; es kam näher, rasend schnell immer näher! Der Russe trommelt, dachte Fendt, es geht los! Sekundenlang überlegte er. Sollte er Hauptmann Martin Meldung machen? Aber wichtiger war es, den Fahrer und natürlich auch das Funkgerät, das im Wagen war, in Sicherheit zu bringen.
Schon war Fendt beim Ausgang des Bunkers. Und während er durch den kurzen, von Bohlenwänden eingefassten Laufgraben hastete, warf er den schweren, behindernden Schafspelzmantel ab. Der fahle Schein ununterbrochen zuckender Mündungsblitze erhellte gespenstisch die Mauerstümpfe des zerschossenen Uferdorfes.
Während der Feuerschlag mit brüllendem Getöse den Abschnitt des Bataillons »Derrutti« erfasste und zusehends weiter nach Osten übersprang, dieses tausendschlündige Wummern, Krachen und Bersten, erreichte Wachtmeister Fendt das halbwegs erhaltene Haus, hinter dem sie bei der Ankunft den Kübelwagen abgestellt hatten. Der Wagen stand am Ort, auch das Tornister-Funkgerät war vorhanden. Verschwunden dagegen war der Obergefreite Erdmann.
»Erdmann!«, rief Fendt, obgleich er wusste, wie sinnlos es war, gegen das Höllengebrüll des russischen Trommelfeuers ankommen zu wollen.
Mit Feuerblitzen krepierten die ersten Granaten in der Nähe. Mauerreste stürzten ein, Schneestaub und Erdbrocken wurden hochgeschleudert.
»Erdmann!«, rief Fendt noch einmal.