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      Sie war froh, dass er ihr keinen Guten Rutsch wünschte, als sie an ihm vorbei das Haus betrat. Wer sich um den Jahreswechsel scherte, durfte jetzt langsam nervös werden, die Sektflaschen, die viel zu lang im Warmen gestanden hatten, zu den Rauchern auf den eisigen Balkon bringen und hoffen, dass niemand sich bediente. Gläser zählen. Vermutlich würde bald jemand Wunderkerzen austeilen. Im Hausflur lagen alte Fliesen mit einem schwarzweißen Ornament, bei dem man kaum mehr zwischen Muster und Patina unterscheiden konnte. Es roch nach nichts. Sie horchte an den Türen. Meistens war es ruhig. Irgendwo lief ein Fernseher. Jemand telefonierte. Vor Herrn Böhms Tür lag eine ausgetretene Fußmatte. Das Türschild hatte er von Hand geschrieben, in blauen Großbuchstaben, auf ein Klebeetikett. Dahinter musste noch der Name einer seiner Vormieter zu finden sein. Wie von allein machten Judiths Fingernägel sich an dem Aufkleber zu schaffen. Die erste Ecke war am schwersten zu lösen. Auf den kalten Wänden klebte Herrn Böhms Name besonders fest. Sie hauchte das Etikett ein paarmal an, dann zog sie langsam, sorgsam, mit geduldigen Fingern an der linken oberen Ecke. Als Erstes kam ein L. Dann ein I. Und ein N. Judith hielt die Luft an, der Raum drehte und dehnte sich. Fast hätte sie Herrn Böhms Namensschild einfach wieder darüber geklebt und das Ganze auf sich beruhen lassen, aber wie hätte sie da unbeschwert Silvester feiern können, mit halbgetaner Arbeit und einem Schrecken im Genick. Am Ende war aus Lin eine Linde geworden, ein angenehmer Nachname, ganz ohne Geheimnis.

      Die richtige Wohnung war die oberste, bei der sie bereits geklingelt hatte. Die Partygäste hatten sich in kleine Gruppen auseinanderdividiert, zwei oder drei Leute, mal vier. Die Zimmer waren groß und sehr weiß. Auf dem Fußboden stapelten sich Magazine, die als Beistelltische herhielten. In einer San-Pellegrino-Flasche stand eine einzelne Lilie mit zwei üppigen Blüten. Die Wohnung hatte einen merkwürdigen Grundriss, sie schien kein Ende zu nehmen, jeder Raum eine Variation des vorhergehenden, alle waren sie trotzdem demselben Universum zugehörig. Noch eine Tür und noch eine. Das mussten einmal ungeheuer viele Dienstbotenwohnungen gewesen sein. Weil sie nicht wusste, wohin, folgte sie ihrem Instinkt und ging in die Küche. Ein Mann mit Bart schnitt Limetten auf. Er hatte sich ein graues Geschirrtuch über die Schulter gehängt und sah aus wie der Barkeeper in einer gehobenen Cocktailbar, seine Bewegungen wirkten kontrolliert, einstudiert und präzise, er führte sie ohne Anstrengung aus. Er war so daheim an diesem Ort, dass er zweifelsfrei der Gastgeber war.

      »Entschuldigung, ich suche Lin.«

      »Kenne ich nicht.«

      »Wirklich nicht?«

      »Glaub’ nicht. Nein.«

      »Und Alexa?«

      »Alexa. Ja, klar. Und Lin ist ihre Begleiterin? Kurze dunkle Haare? Eher schmal? Aus Wien? Dann weiß ich’s. Also, nicht, wo sie sind. Aber sie waren hier. Vor einer Stunde vielleicht, oder nicht ganz.«

      Der Mann achtelte eine weitere Limette.

      »Und wo sie jetzt sind, weißt …«

      »Nein. Leider nicht. Du kannst hier warten, wenn du willst. Und nimm dir ruhig einfach etwas zu trinken.«

      Das ist doch eine Party, dachte Judith. Hier müssten normalerweise lauter Leute sein, die auf dem Klo rauchen und mit Schuhen durchs Schlafzimmer gehen und keiner trinkt sein Bier aus. Fremde Menschen ohne Anstand und Geschmack werden nachher YouTube-Videos mit ihrer Lieblingsmusik spielen. Auf deinem Laptop. Und ich darf hier warten?

      Judith bedankte sich und sagte nichts weiter. Die Höflichkeit des Mannes fühlte sich an wie eine Beleidigung, eine, die man anderen Leuten schwer als solche vermitteln konnte und die deshalb umso mehr stach. Die Art, wie er sich wieder seiner Arbeit zuwandte und schwieg dabei, es hatte etwas Feindseliges. Psychologische Kriegsführung. Als der Gastgeber aus der Küche verschwand, mixte sie sich einen Gin Tonic und stellte ihr Mitbringsel auf die Arbeitsplatte, einen Weißwein mit Rotkehlchen auf dem Etikett, das vom Kondenswasser durchgeweicht und verrutscht war, der Vogel hatte eine Schramme über der Stirn abbekommen. Sie scheute sich noch eine Weile davor, auf ihrem Handy nachzusehen, ob Lin ihr eine Nachricht geschickt hatte, dann schaute sie eine Zeitlang alle dreißig Sekunden auf das Display. Schließlich entfernte sie den Akku und steckte ihn in die rechte und das entkernte Handy in die linke Hosentasche, als hätte sie das schon öfter so gemacht.

      Während sie sich den zweiten Gin Tonic mischte, kamen mehr Leute in die Küche. Sie ließ ein Stück Limette, das auf der Arbeitsplatte zurückgeblieben war, in ihr Glas fallen. Jemand sagte »hey« oder »hi«, für die anderen war sie durchsichtig. Sie wusste nicht, ob Mitternacht schon vorbei war. Draußen vor der Tür war ein ewiges Feuerwerk, das mal anschwoll und anschließend wieder ruhiger wurde, nur um in dem Augenblick, wenn man dachte, es sei jetzt vorbei, mit doppelter Wucht wieder loszugehen. Sie ging eine weitere Runde durch die Wohnung. Es lief andere Musik, die Gespräche waren lauter geworden und überlagerten einander. Es war unklar, wer zu welcher Gruppe gehörte. Manche standen einfach nur herum. Es roch anders. Jemand lachte aus dem Rauschen der Gespräche heraus. Judith schloss die Augen und dachte an das Feuer. Plötzlich war sie größer als alle hier. Sie steckte die Flasche Veltliner wieder ein auf ihrem Weg nach draußen, und irgendwie verschwand auch eine Tüte Cashewkerne in ihrer Manteltasche. Und ein Korkenzieher, der nicht so aussah, als hätte der Gastgeber ihn in einer Notlage beim Späti gekauft. Er lag schwer in ihrer Hand und wärmte sich an ihr.

      Im Treppenhaus hörte man, wie die Geräusche von draußen und die Geräusche von der Party ineinanderflossen, bis sie nicht mehr zu unterscheiden waren. Es war nun doch eine laute Party geworden, Judith hatte den Übergang nicht mitbekommen. Überhaupt wirkte das Haus anders, nun, da sie die Treppe wieder hinunterstieg und allem den Rücken kehrte. Hinter Herrn Böhms Milchglasscheibe war es hell. Judith ließ sich neben seiner Wohnungstür auf den Treppenabsatz sinken und setzte die Batterie in ihr Handy ein. Aufgeregt blinkte es auf dem Display, dort, wo normalerweise das Netz und nun ein leeres Dreieck angezeigt wurde.

      Als Lins SMS ankamen, war Judith schon längst auf der Straße, hatte das Haus und die Feier hinter sich gelassen. Sie schaute nicht nach, als es in ihrer Tasche zu klingeln begann. Es tat nichts zur Sache, dass Lin sie nicht vergessen hatte, es sie noch gab und sie vielleicht sogar in genau demselben Augenblick, als es dieser egal wurde, an Judith gedacht hatte.

      Die Stadt wirkte plötzlich doch ganz fremd. Gefährlich und losgelassen, als könne es jederzeit und überall zu brennen anfangen, als gäbe es nichts, das nicht passieren könnte. Judith dachte an das Feuer. Sie fragte sich, ob sie in der Lage wäre, etwas in Brand zu setzen, so lange, bis sie von ihrem Potential als Feuerteufelin tief überzeugt war. Die kalte Luft und die aufgebrachten Leute machten sie noch wacher, als sie es ohnehin schon war. Es war stockfinster und zugleich seltsam hell.

      »War schon Mitternacht?«, fragte sie in eine Gruppe von Menschen hinein.

      Alle lachten. Jemand bot ihr etwas zu trinken an. Einige Schritte weiter begann ein Paar zu streiten, ein Mann redete auf eine Frau ein, packte sie an der Schulter, stieß sie wieder fort. Sie taumelte, der Streit wurde lauter und hässlicher. Ihr Blick traf Judiths. Die Frau suchte irgendetwas darin, vielleicht wollte sie nur, dass jemand sie sah, vielleicht wollte sie praktische Hilfe. Sie merkte schnell, dass sie keins von beidem finden könnte, ihr Blick wurde leer und abwesend, als beobachtete sie die Szene von außen und erkannte sich selbst darin allenfalls als Schauspielerin wieder. Ihr Körper verweigerte jede Gegenwehr, federte bloß ab, was kam. Ein paar entsetzt dreinschauende Menschen hasteten vorbei. Judith rührte sich nicht. Sie fragte sich, wie sie wohl in den Augen der anderen aussah, teilnahmslos oder empört, voller Mitleid oder voller Kälte. Sie spürte in sich hinein und fand weder das eine noch das andere. Dann war das Paar plötzlich weg. Alles flackerte. Zwischen Judith und dem Himmel quoll Rauch. Eine Rakete zischte gegen eine Häuserwand und explodierte erst kurz über dem Boden. Judith hatte keine Angst; vielleicht, weil sie allein und deshalb ohnehin vieles egal war. Irgendetwas anderes war mit ihr geschehen. Mit großen Schritten lief sie geradewegs ins Neue Jahr hinein. Aus einer Gruppe von Leuten löste sich ein Lächeln, das ihr galt. Sie lächelte zurück. Nie hatte sie sich tapferer gefühlt.

      Wenige Stunden später lugte die Sonne über die Häuser und gab den Blick frei auf die Reste der Nacht, die verglühten Raketen und Glasflaschen und Bierdosen auf dem Bürgersteig. Sie

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