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lief sie ans Ufer des Teichs und legte auch der Schildkröte ein Stück Brot auf ihren Stein. Die schwarzen Augen des Sauropsiden würdigten sie keines Blickes. Judith war nicht sicher, was verbotener war, den asphaltierten Weg zu verlassen oder die Tiere im Park zu füttern. Vielleicht war es gut, dass sie alle keinen Hunger hatten. Es war niemand in Sichtweite, offensichtlich hatten nicht einmal die Einwohner des Seniorenheims nebenan gerade Hofgang. Während Judith die Stufen zur Straße hinabstieg, aß sie die letzten mitgebrachten Brotstücke selbst auf, drehte ihre Rocktaschen auf links, schüttelte die Krumen heraus, stopfte sie wieder nach innen und grub ihre Hände hinein. Der Rock bauschte trotzdem.

      Auf der anderen Straßenseite lag eine verwitterte Villa, die früher einmal ein Kinderheim gewesen war. Ein richtiges Horrorfilmkinderheim. Raben hüpften durch das wildwüchsige Gras im Garten. An Tagen wie heute passte all das zusammen, alles ergab einen Sinn. Die Patina, der graue Himmel, Stille und Sturm, Raben und Tauben, der japanische Garten und die Wiener Straßenzüge, ins Gesicht gewehte Haare, das Kreisen der Blätter im Wind, das leichte Unbehagen ohne erkennbaren Grund. Sie blickte nochmal zurück in Richtung Park, wenn man jedoch einmal durch das Tor hinausgegangen war, konnte man sich das Universum auf der anderen Seite bereits nicht mehr vorstellen. Plötzlich passte es zwischen zwei steinerne Pfeiler, kaum hüfthoch.

      In letzter Zeit erwischte sie sich immer öfter dabei, wie sie Umwege machte. Statt gleich am gusseisernen Eingangstor der Villa in die Tram zu steigen, lief sie in eine der Seitenstraßen hinein, an der stillgelegten Insektizidfabrik vorbei. Dass sie das Haus überhaupt entdeckt hatte, verdankte sie nur ihrer neuen Leidenschaft, der Verzögerung des Heimwegs. Anfangs hatte es sie irritiert, wie großartig es sich anfühlte, allein zu sein. Mittlerweile hatte sie aufgegeben, sich schlecht zu fühlen, weil es ihr so gut ging mit sich selbst. Hier ging fast niemand spazieren, mit jedem Schritt wurde ihr der Flatterrock ein bisschen gleichgültiger, und je weniger sie daran dachte, desto harmloser wurde der Wind.

      Wie immer ging sie durch einige ganz und gar uninteressante Straßen, die sie in ihrer Gleichförmigkeit mal beruhigten und mal deprimierten, bis sich ganz aus dem Nichts ihr Lieblingshaus auftat. Ein Paradiesvogelhaus. Die Außenfassade mit ihrer orientalischen Exzentrik und all ihrer zur Schau gestellten Seltsamkeit konnte nur ein Überbleibsel aus Zeiten sein, die mit dem Heute nichts zu tun hatten. So würde kein Mensch mehr bauen, nicht mal in Las Vegas. Es war zum Lachen. Der Architekt musste einen Heidenspaß gehabt haben. Das Lieblingshaus stand eingeklemmt zwischen Wohnhäusern, die bemüht unauffällig, fast ein wenig beschämt daneben aufgereiht waren, als wäre es ihre Aufgabe, dem ganzen Straßenzug eine bescheidene Normalität zurückzugeben, und als würden sie ihr Scheitern daran tapfer zu überspielen versuchen. Die Fabrik wurde mittlerweile anders als früher genutzt; Judith wusste nicht, wofür und von wem. Sie wirkte leer und durch ihre Leere noch eigenartiger.

      Alles in allem verlängerte sich Judiths Heimweg dank des Schlenkers um eine gute halbe Stunde, vorausgesetzt, dass sie langsam ging und die Tram am anderen Ende der Straße weder sofort kam, noch eine nennenswerte Verspätung hatte. Langsam zu gehen fiel ihr nicht schwer. In letzter Zeit fühlte sie sich immer, als liefe sie gegen einen starken Wind an, und im Vergleich zu anderen sah sie vermutlich auch so aus. Lin bewegte sich so anders als sie, leicht und schnell, nie gehetzt, aber immer zügig. Sie lief, wie sie sprach; es war schwer, ihr zu folgen, doch wer sich die Mühe machte, wurde belohnt. Auch sonst wirkte sie immer, als hätte sie etwas Wichtiges vor, selbst dann, wenn sie einem ihre volle Aufmerksamkeit schenkte und ihre Konzentration eine kleine Falte in ihre Stirn grub, genau über der Nase, wo manchmal ihre Brille saß. Bei Judith selbst vermochte es die Unruhe in ihrem Kopf nie, ihre Beine mitzureißen, und ihre Gedanken schafften es nur mühsam und schwerfällig aus ihr heraus. Sie hatte ein paarmal erlebt, wie Leute das zu einem Kompliment verdrehten und ihre makellosen Sätze lobten. Dabei hatten sie auf dem langen Weg von ihrem Hirn bis zu ihrem Mund einfach viel Zeit, um Fehler abzuschütteln. Auch Judith lief, wie sie sprach. Es war fast ein Wunder, dass sie früher oder später doch an der Tramhaltestelle ankam. Heute ging sie noch ein Stück an den Schienen entlang, in die Richtung, aus der ihre Bahn kam, noch ein bisschen weiter weg von ihrer Wohnung, und noch ein bisschen.

      »Sonntage machen mich depressiv«, sagte Lin. Sie saß am Küchentisch, das eine Bein angewinkelt, so dass sie das Kinn auf ihrem Knie ablegen konnte.

      »Ich weiß. War das eigentlich immer schon so?«

      »Wahrscheinlich. Zumindest lange genug, dass ich es gar nicht mehr mit Sicherheit sagen kann.«

      »Ich finde Sonntage auch nicht besonders toll«, sagte Judith, obwohl sie dazu in Wahrheit keine Meinung hatte. Sie wollte Lin verstehen und ihr zeigen, dass sie verstanden wurde, wie sie so zusammengefaltet auf ihrem Stuhl saß und wartete, dass der Tag an ihr vorüberzog und sie ihn mit einem unspektakulären, ihrem großen und feinen Geist unangemessenen Fernsehfilm genauso würdelos beenden konnte, wie er es verdient hatte. Sie sah aus wie immer in ihren Jeans und dem dünnen Pullover, der auf die genau richtige Art zu groß war und ständig damit lockte, einen schnellen Blick auf ein Schlüsselbein oder eine bloße Schulter freizugeben, ohne diese Versprechen zu oft einzulösen.

      Auf der Tischplatte lag eine Zeitung, die so großformatig war, dass man sie nie wieder ordentlich zusammensetzen konnte, hatte man einmal darin gelesen. Lin hatte es offensichtlich gar nicht erst versucht. Eine Doppelseite war auf den Boden geschwebt und halb unter den Herd gerutscht. Im Raum breitete sich ein Schweigen aus. Judith fragte sich, ob Lin es mitbekam. Sie hätte gern irgendetwas gesagt, vielleicht sogar erzählt, ihr wollte jedoch einfach nichts einfallen, das gegen diese Art von Stille eine Chance hätte. Sie setzte eine Kanne Tee auf und spülte Lins Lieblingstasse aus, gewissenhaft und langsam. Das Wasser ließ ihre Hände rot werden wie etwas Rohes, aber sie fühlte nicht, ob es zu heiß war. Lin verschwand immer mehr in sich selbst, in dieser ruhigen Konzentration, die einem das Gefühl gab, man dürfe sie jetzt nicht beim Denken unterbrechen. Judith musste sich Mühe geben, so etwas wie Freude in ihrem Gesicht zu lesen, als sie den Tee auf den Tisch stellte und ein Glas Honig dazu. Sie dachte an Berlin. Lin war mal zu ihr genauso gewesen wie zu ihren Freundinnen, hing an ihrem Arm, wenn sie spazieren gingen, und redete mit ihr auf eine Art, die jedes Gespräch in Gang hielt. Judith hingegen war zu Lin anfangs vollkommen anders gewesen als zu anderen Leuten. Und jetzt verhielt sie sich wie gewohnt, servierte im Stillen und wusste nichts mitzuteilen.

      Es roch noch nach den aufgebackenen Croissants aus der Früh. Ihre Wohnung hatte, seit sie zusammengezogen waren, einen richtigen, beständigen Zuhausegeruch bekommen. Im Bad duftete es nach Seife und Creme, in Lins Zimmer nach sauberer Wäsche, alten Büchern und frisch bedrucktem Papier. Nur in Judiths Zimmer roch es nach nichts, oder jedenfalls nach nichts, das diesseits ihrer Wahrnehmungsschwelle lag. Lin würde behaupten, es röche nach Holz. Das mochte sein, nur roch Holz in Wirklichkeit nicht nach Holz, sondern nach Tanne, Buche oder Birke. Nach Kirschbaum oder Nussbaum, nach den ätherischen Ölen in den Hölzern und Harzen. Oliven- oder Leinöl, Bienenwachs oder Lasur. Und nichts davon hatte in ihrem Zimmer Spuren hinterlassen. Vielleicht hob sich alles, was sie je besessen oder hergestellt hatte, gegenseitig auf, vielleicht hatte sie durch Zufall Stück und Gegenstück gefunden, Positiv und Negativ. Judith zog die Zeitungsseite unter dem Herd hervor und setzte sich zu Lin. Ihr Blick wanderte über die Buchstaben, wollte allerdings nirgends bleiben, nicht einmal bei den Bildern. Lin saß eine Weile einfach nur da, dann nahm auch sie das Lesen wieder auf. Es sah glaubhafter aus als bei Judith selbst, dieses Zeitunglesen, Lin hatte offenkundig viel mehr Übung. Ohne Furcht schlug sie eine lange Reportage auf und versank darin, während Judiths Blick sich irgendwo im Muster der Gardinen verfing.

      Der Esstisch war alt und schwer und hatte den Weg vom Schwarzwald bis in die Werkstatt in Wien auf den verworrensten Wegen zurückgelegt. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, ihn abzuschleifen und das Holz wieder herzurichten. Judith hatte nach Feierabend daran gearbeitet, manchmal auch in der Früh, wenn sie noch allein in der Werkstatt war. Kurz bevor jemand von den anderen zur Arbeit kam, hatte sie ihn mit einem Leintuch abgedeckt, das weiß gewesen war, ehe es den Staub und die Gerüche der Werkstatt so sehr angenommen hatte, dass alles darunter automatisch unsichtbar wurde. Nur Milo hatte sie den Tisch gezeigt. Er hatte genickt, anerkennend, und ihr gezeigt, wie die Platte noch ein bisschen gerader wurde und noch ein wenig glatter. Judith hatte die Wurmlöcher verschlossen und Kratzer ausgebessert, geölt und nochmal geölt, bis der

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