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      »Aus!«, brüllt Schimanek zum zweiten Mal und dann: »Stillgestanden!«

      Die Sträflinge zucken zusammen. Schimanek dreht sich zum Stammpersonal um: »Bitte wegtreten«.

      Mit kurzen, ärgerlichen Schritten geht er in die Baracke zurück.

      Es ist halb elf Uhr vormittags. Um zwölf stehen die Sträflinge noch immer. Es fängt an zu schneien. Der Wind ist eisig. Um halb zwei steht der jämmerliche Menschenhaufen noch immer in leidlich strammer Haltung auf dem Appellplatz. Niemand kümmert sich um ihn. Der Schnee fällt auf ihn nieder.

      Gegen drei Uhr fegt ein richtiger Schneesturm über den Heuberg und lässt die grimmigen Flüche der Gepeinigten erstarren, tötet jeden Verzweiflungsgedanken, friert die Hirne ein.

      Um vier Uhr fallen die Ersten um und bleiben im matschigen Schnee liegen.

      Erst um fünf taucht Feldwebel Helm auf und treibt den zusammengefrorenen, halbtoten Menschenhaufen in die eiskalten Unterkünfte.

      Der Heuberg erwacht. Die Normaluhr zeigt sechs. In den Baracken gellen die Trillerpfeifen.

      »Aufstehen!«

      Der Tag beginnt mit Gebrüll, Getrampel und Türenschlagen. Die lahmen Gestalten werden von den Strohsäcken gescheucht.

      »Seid ihr noch nicht in den Waschräumen, ihr Drecksäcke?! Laufschritt, marsch, marsch!«

      Im Barackenflur klappern die Holzpantinen. Halbnackte Knochengerüste drängeln in die eiskalten Waschräume. Die Wasserhähne zischen. Vor dem Betonbecken stehen dichtgedrängt die Gestalten des Elends, des Hungers, der Entbehrung.

      Auf jedem zweiten Rücken kann man die Narben viehischer Schläge sehen. Jeder Dritte ist tätowiert. Jeder Fünfte leidet an schwärender Furunkulose.

      Emil Schlegel, der Mörder, hat sich einen Spaß daraus gemacht, sich die witzigen Worte »Dieses Haupt gehört dem Henker« in die Nackenhaut ritzen zu lassen. Fragt man ihn, wie es zugegangen ist, als er in Hamburg eine jüdische Frau mit einem Bleirohr niedergeschlagen und ausgeraubt hat, erzählt er es bereitwillig und beschließt seine detaillierte Schilderung mit dem Seufzer: »Es war blöd, dass ich mir ’ne Jüdische vorgenommen hab. Ich hätte mir denken können, dass da die Gestapo nicht weit weg ist.«

      Der Postdieb rasiert sich neben dem Tresorknacker, der Bibelforscher neben dem Sittenstrolch, der Defätist zwischen zwei Jugendlichen aus dem Dessauer Gefängnis. Die Kriminellen schneiden auf dem Heuberg besser ab als die Politischen, das ist eine längst bekannte Tatsache. Das Kalfaktorentum blüht, der Spitzeldienst bringt ein paar Vergünstigungen ein.

      Auf dem Heuberg gibt es kein Moralschema, und deshalb hat Pfarrer Kranz recht, wenn er seinen Freund Helmut Kalmeder beschwört: »Auch hier darfst du keinem trauen.«

      Der Student, gleich gestern Abend als Stubenältester eingeteilt, weiß längst, dass er sich vor Emil Schlegel in Acht nehmen muss, dass der Postdieb Karl Zenker ein guter Kerl ist, der nur gestohlen hat, weil er seinem kranken Töchterchen eine Freude hat bereiten wollen, dass Alfons Schnittgen, der Bibelforscher, noch am Erschießungspfahl enden wird, dass Xaver Bunser, der Halbidiot, harmlos ist, dass man sich aber vor Hansi Weiß, dem Taschendieb, hüten muss und dass der Rest der Stubenbelegschaft sich aus mehr oder weniger zwielichtigen Charakteren zusammensetzt – Charakteren, die sich erst in den nächsten Wochen als zuverlässig oder unzuverlässig herausstellen werden.

      Der U. v. D. steht breitbeinig an der Tür und wartet. Dann ein Pfiff. »Auf die Stuben, marsch, marsch!«

      Alles geschieht hier im Laufschritt, auch das Kaffeeholen. Für Stube 10 besorgt das Karl Zenker, der unredliche Postler. Im Laufschritt geht es zur Küchenbaracke hinüber.

      Unteroffizier Pratsch, ein Bulle mit feistem Pickelgesicht, lauert mit der Kelle in der Hand auf die Neuen.

      »Geht bloß auf Vordermann, ihr Schweinsköppe!« Er taucht die Kelle in den dampfenden Kessel. »Dass mir ja kein Tropfen danebengeht!«

      Pratsch ist bekannt dafür, dass er die Strafsoldaten für Pestbeulen hält, die man ausmerzen müsste.

      Der Kaffee ist mies. Ohne Aroma. Sehr dünn. Nur heiß. Karl Zenker zittert, als er die Zinnkanne hinhält. Pratsch schüttet ihm eine Kelle voll heißem Kaffee über die Hand.

      »Pass doch auf, du Dussel!«, entschlüpft es Zenker.

      »Was hast du gesagt?«, brüllt Pratsch. »Was hast du gesagt?«

      Er hebt die Kelle und haut sie Zenker dreimal über den Kopf. Die Kelle ist verbogen. Der überdimensionale Kochlöffel wird besser halten. Und den haut Pratsch dem Postler über Kopf und Buckel.

      Zenker schreit zweimal auf. Erst als er zusammengekrümmt und mit blutendem Schädel auf den Fliesen liegt, erwacht Pratsch aus seinem Prügelrausch, legt den Kochlöffel beiseite und grunzt: »Der Nächste.«

      Die Stube 10 wartet an diesem ersten Morgen vergeblich auf die Kaffeekanne. Zenker liegt mit angeknackter Hirnschale im Revier. Das Brot muss trocken hinuntergewürgt werden. Dann gellt die Trillerpfeife.

      »Raustreten zum Frühappell!«

      Der Neuschnee färbt den Morgen bleich und fremd. Die Spuren der Kaffeeholer führen zur Küchenbaracke hinüber und wieder zurück.

      U. v. D. Schmitt geht alles zu langsam. »An den Zaun, marsch, marsch! Hinlegen, ihr Schweine! Schnauze in den Dreck! Robben!«

      Der Haufen rennt los, wirft sich hin, kriecht im matschigen Schnee.

      »Morgenstund’ hat Gold im Mund«, höhnt Kalmeder und hilft Pfarrer Kranz beim Aufstehen. »Hinlegen! Auf marsch, marsch!«

      Atemlos kehrt der Haufen zurück, formiert sich wieder, taumelt, hält sich gegenseitig aufrecht.

      »Mensch Meier«, keucht Emil Schlegel, »det sind ja janz scheen brutale Methoden, da war ma ja’s Zuchthaus noch lieba.«

      Hauptfeldwebel Schimanek sitzt noch beim Frühstück. Weißbrot, Landbutter, luftgetrockneter Schinken aus Westfalen, drei halbweiche Eier und Bohnenkaffee. Es geht ihm nicht schlecht. Trotzdem ist er schlechter Laune. Das bekommt der neue Haufen auch bald zu spüren.

      »Da war einer unter euch«, beginnt Schimanek den Frühappell, »der ist gleich frech geworden. Zu welcher Stube gehörte das Schwein?«

      Kalmeder tritt vor.

      »Her mit dir!«, schreit Spieß Schimanek.

      Kalmeder bleibt drei Meter vor Schimanek stehen, Hände an der Hosennaht, den Blick seiner grauen Augen fest auf die gedrungene Gestalt gerichtet.

      »Name?«

      »Helmut Kalmeder.«

      »Von wo?«

      »KZ Dachau.«

      »Wieviel?«

      »Fünf Jahre.«

      »Wegen was?«

      Kalmeder schweigt.

      »Wegen was, hab ich gefragt?«, brüllt Schimanek. »Soll ich dich Schwein zum Sprechen bringen?«

      Kalmeder spürt etwas von jenem Trotz in sich aufsteigen, der ihm damals von der Gestapo viehische Prügel eingebracht hat.

      Junge, sei vernünftig, betet Pfarrer Kranz in sich hinein. Spiele jetzt um Gottes willen nicht den starken Mann. Die bringen dich um … die warten ja nur darauf.

      »Ich bin wegen antifaschistischer Gesinnung abgeurteilt worden«, sagt Kalmelder mit lauter Stimme.

      »Aha«, ergrimmt sich Schimanek, »ein solches Schwein bist du. Schimpft auf den Führer und frisst doch sein Brot.«

      Kalmeder bleibt ruhig, sieht den Sprecher an und denkt: Du armes Würstchen. Blökst und kommst dir großartig vor. Ich tue dir nicht den Gefallen, etwas auf deine strohdumme Rede zu erwidern.

      Schimanek stemmt die Arme in die Seiten, stellt sich

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