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oder Zeugen Jehovas, »Rassenschänder« neben überzeugten politischen Gegnern des Hitlerreiches.

      Der Regen fällt nieder. Der Himmel weint über das viele Elend, das sich auf der Verladerampe der Bahnstation Tiergarten zusammendrängt und mit Kolbenstößen munter gemacht wird. Die Justizbeamten sind ungeduldig, sie wollen sich ihre brüchige Last so rasch wie möglich quittieren lassen.

      Was soll dieser Mummenschanz? Was hat man mit ihnen vor? Die meisten haben keine Ahnung, stehen stumpfsinnig und ergeben im Regen und frieren und hungern.

      Droben, im feuchten Grau des Novembertages versteckt, wartet der Heuberg, ein Truppenübungsplatz, berüchtigter Schleifstein aus den Jahren 1914 bis 1918. Der schluckt diese Elendsmassen, der frisst sie, wie sie kommen.

      Zuchthäusler und KZler vereinigt die seltene Nummer 999. Der geistige Vater dieser Nummer war ein Spaßvogel und erklärte seinen Vorschlag damit, dass man in London dreimal die Nummer neun wählen muss, um Scotland Yard an die Strippe zu bekommen, jene Polizeidienststelle, die für Mord und Totschlag zuständig ist.

      Dreimal die Neun heißt auf dem Heuberg »Ersatzbataillon 999«. Hier will man der knieweichen Zuchthaus- und KZ-Fracht eine Chance geben. Denn der Kanonendonner ist bedenklich nähergerückt. Das einst so glänzende Fanal am deutschen Kriegshimmel verdunkelt sich von Tag zu Tag.

      Nicht weniger als 25 000 Mann versammeln sich unter der taktischen Nummer 999. Die, die vorher kamen, sind längst nicht mehr oder existieren nur noch als Einzelexemplare. Das Gros ist in Afrika geblieben, vor Tobruk zusammengeschossen worden, in der Wüste dem Hitzschlag erlegen, im afrikanischen Gefangenenlager »Pont du Fass« von fanatischen Nazis aus regulären Einheiten erschlagen, als Minenräumer in einem Minenfeld zerfetzt worden. Oder sie sind desertiert, irgendwo in der Wüste verschmachtet, zu Tausenden im Mittelmeer abgesoffen.

      »In Gruppen zu je dreißig Mann antreten!«, brüllt der Transportführer vom Heuberg und fuchtelt mit der Signalkelle herum.

      Die Bluthunde fletschen die Zähne. Der Gestank, den diese Elendsgestaltan verbreiten, reizt die Sinne. Die Tiere hassen diese Menschen in Lumpen. Sie sind auf sie dressiert. Wehe dem, der es wagen würde, auszubrechen, um im Nebel zu verschwinden.

      Keiner bricht aus.

      Die Rampen der Lkw knallen herunter. »Hopp, ihr Ganoven! Rauf mit euch! Beeilung, Beeilung!«

      Feldwebel Helm winkt mit der Kelle. »Abfahren!«

      Die Lastwagen rumpeln los. Aus der dampfenden Güterzuglok schauen zwei rußige Gesichter.

      »Arme Schweine«, brummt der Lokführer.

      »Untermenschen«, berichtigt der Heizer und spuckt dem letzten Lastwagen nach.

      Stetten heißt der nächste Ort. Er liegt im Tal, am Fuß das Heubergs. Der Volksmund erzählt, dass an einem Pfingstsonntag anno Schnupftabak auf dem Viehmarkt eine Ziege erfroren und umgefallen sein soll. Die Heubergsoldaten haben den Ort Stetten am kalten Markt in »Stetten am kalten Arsch« umgetauft. Stettens Bürger betrachten den nahen Heuberg als ein Übel, für das sie nichts können. Andere meinen ganz offenkundig, dass er der Schandfleck in der Landschaft sei.

      Der Bürgermeister seufzt heimlich unter der ihm auferlegten Last. Er ist verantwortlich dafür, dass kein Ortsbewohner mit einem Strafsoldaten Kontakt aufnimmt. Mitleid ist verboten. Die Standortkommandantur vom Heuberg greift scharf durch, wenn es herauskommt, dass ein mitleidiger Bauer einem Strafsoldaten einen Schnaps geschenkt oder ihm gar irgendeinen barmherzigen Dienst erwiesen hat. Nur das Stammpersonal genießt den Vorzug, am Wirtshaustisch sitzen oder mit einem Mädle flanieren zu dürfen.

      Der zusammengepferchte Menschenhaufen schaut stumpfsinnig auf das dampfende Land, und dem Studenten Helmut Kalmeder ist es, als wehe von den abgeernteten Feldern und aus dem regennassen Forst ein Hauch von Freiheit herüber.

      »Im Sommer muss es hier schön sein«, sagt Pfarrer Kranz.

      Der Student nickt nur. Gefängnis bleibt Gefängnis, auch wenn die Sonne in die Enge scheint.

      Die Ortschaft Stetten taucht auf.

      »Ein Lied!«, ruft der Posten am hinteren Wagenende.

      »Ein Lied …«, murmelte der hin und her schaukelnde Menschenhaufen. »Westerwald … zwo, drei, vier …«

      Sie singen mit kraftlosen Lungen in das Brummen der Motoren hinein. Sie singen mit leeren Bäuchen und zitternden Gliedern. Die Bürger von Stetten schauen aus den Fenstern oder stehen vor den Haustüren.

      »Ooooh du schöööner We-e-e-sterwald …«

      »Lauter, ihr Drecksäcke!«, brüllt der Posten und fuchtelt mit der MP herum.

      »… scheint tief ins Herz hinein«, singt die gequälte Last auf den schwankenden Lkw und verschwindet im Nebel der Höhen.

      Der Heuberg hat Nachschub bekommen. Im Leben der Sträflinge hat sich nichts geändert. Der Heuberg wird genauso trostlos sein wie jedes andere Straflager. Es wird wieder Stacheldraht geben, es werden Wachtürme da sein, von denen die Posten ohne Anruf schießen, wenn sich jemand dem dreimal verfluchten Drahtzaun nähert, der die Wehrunwürdigen von der großen Gemeinschaft trennt.

      Ungefähr zur gleichen Zeit, als auf dem Heuberg vor der Schreibstubenbaracke der dritten Kompanie Hauptfeldwebel Wenzel Schimanek den Haufen mit Flüchen in Empfang nimmt, hat Herr Baurat Wendt in Berlin ganz andere Sorgen.

      Das Schulhaus in Berlin-Zehlendorf darf gebaut werden, heißt es in einem eben eingetroffenen Schreiben des Rüstungsministers und Generalinspekteurs Albert Speer, und unterliegt keiner Beschränkung an Baustoffen und Arbeitskräften …

      Der Herr mit dem graumelierten Haar hinter dem Schreibtisch erhebt sich und geht mit dem Schreiben ins Nebenzimmer. Inge Grotius blickt von ihrer Schreibmaschine auf.

      »Die Baugenehmigung ist da«, erklärt Wendt. »Keine Beschränkung in Baustoffen.« Er legt ihr das Schreiben vor. »Ich weiß bloß nicht, woher wir die Arbeitskräfte nehmen sollen, Fräulein Inge. Wissen Sie einen Rat?«

      Das langhaarige, blonde Fräulein mit den Nixenaugen seufzt: »Das heißt also, dass ich wieder einmal mit dem Parteigenossen Brinkmann vom Arbeitsamt verhandeln muss?«

      Wendt legt seiner bildhübschen Sekretärin die Hand auf die Schulter. »Ich werde Sie darum bitten müssen, Inge. Ich weiß ja«, fügt er sanft und verständnisvoll hinzu, »dass es Ihnen nicht leichtfällt, mit diesem Nieselpriem zu sprechen, Inge. Aber bedenken Sie, dass sich dreihundert Schulkinder freuen würden, wenn sie ein neues Schulhaus bekämen.«

      »Der Zweck soll die Mittel heiligen«, lächelt Wendts Sekretärin. Und nach einem zweiten Seufzer: »Na schön. Ich will es mal probieren.«

      Alois Brinkmann ist der Ressortchef für Arbeitsbeschaffung. Inge weiß, dass sie bei dem schwindsüchtig aussehenden Parteigenossen einen Stein im Brett hat. Sie treffen sich gelegentlich am Wannsee. Brinkmann ist ehrenamtlicher Schriftführer des Segelklubs, und Inge entzückt den im Aktenstaub ergrauten Parteigenossen immer wieder mit ihrer attraktiven Figur und ihrem lächelnden Charme – einem Charme, dem sich auch Wendt nur schwer entziehen kann, und aus dem er immer wieder beruflichen Nutzen zieht.

      »Brinkmännchen, ich brauche wieder etwas«, flötet Inge zehn Minuten später in den Hörer.

      »Ich habe es geahnt«, stöhnt die Stimme am anderen Drahtende.

      »Ausschachter, Brinkmännchen, so viele wie möglich. Also, was können Sie uns schicken?«

      »Nichts!«

      Inge runzelt die Stirn. »Machen Sie mich nicht brotlos, Brinkmännchen. Wir brauchen dringend Arbeitskräfte.«

      »Ich habe nichts«, jammert der Parteigenosse Brinkmann.

      »Dann zwingen Sie mich dazu, aus dem Jachtklub auszutreten und mich beim weiblichen Arbeitsdienst zu melden. Ich werde in drei Monaten eine dicke Tussi sein und mich nur noch an einsamen Strandwinkeln im Badeanzug blicken lassen dürfen.«

      Pause!

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