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Sie noch da, Brinkmännchen?«, fragt die helle Mädchenstimme in Wendts Vorzimmer.

      »Ja, ja, Inge«, beeilt sich Brinkmann zu versichern.

      »Also, wie schaut es aus damit?« Es klingt wie ein Ultimatum.

      Brinkmann fährt sich mit der Hand über das schlaffe Beamtengesicht.

      »Gut. Ich schicke Ihnen etwas zu. Morgen früh. Sie dürfen aber nicht erschrecken, Inge. Ich kann nur einen Schub Zuchthäusler freimachen. Wenn Sie nichts auf dem Grundstück haben, was die klauen könnten, können Sie es ja mal mit den Kerlen probieren.«

      Inge Grotius nagt an der Unterlippe. Sie ist plötzlich sehr nachdenklich geworden. Sie bedankt sich zerstreut und legt auf.

      Zuchthäusler! Das Wort schlägt jäh eine Brücke in eine schönere Vergangenheit. Ein Name taucht in ihrer Erinnerung auf: Helmut Kalmeder.

      Inge Grotius zündet sich eine Zigarette an, schnippt gedankenvoll das Streichholz aus, stößt mit bebenden Nasenflügeln den Rauch aus, schaut auf die Schreibmaschinentasten nieder und schlägt gedankenverloren den Buchstaben H an. H wie Helmut.

      Damals, vor vier Jahren … An einem verregneten Abend ist es gewesen. Helmut Kalmeder hat unter der Normaluhr im Park gewartet. Nass ist sein Gesicht gewesen, aber es hat gestrahlt, als sie gekommen ist.

      »Entschuldige bitte«, hat sie gesagt, »ich habe mich um eine Viertelstunde verspätet.«

      »Ich warte gern auf dich!« Mit diesen Worten hat er sie in die Arme gezogen und geflüstert: »Ich liebe dich, Inge …«

      Sie sind durch den einsamen Park gegangen. Der Regen troff von den Bäumen. Die Bänke waren zu nass, um sich hinzusetzen. Helmut hat erzählt, während sie langsam den Kiesweg entlangspaziert sind, hat ihren Arm gehalten, ihre Hand gestreichelt.

      »Komm mit zum Maxe«, hat er gesagt. »Ein paar Kommilitonen sind dort. Ich werde einen Vortrag über Russland halten.«

      »Du wirst über Lenin, Marx und Engels sprechen?«, hat sie gefragt.

      »Vielleicht«, hat er lächelnd erwidert. »Oder hörst du es nicht gern?«

      »Nein.«

      Da hat er sie geküsst, und unter diesem Kuss hätte sie beinahe ja gesagt.

      Dann ist sie mit zu Maxe gegangen, in ein verqualmtes Kellerlokal. Helmuts Kollegen sind da gewesen, haben Bier getrunken und das Paar mit Hallo begrüßt …

      Wendts Sekretärin vergisst, an der Zigarette zu ziehen, schaut zum Fenster hinaus, an das der Regen klopft. Wie lange ist es her, dass sie Helmut aus den Augen verloren hat? Wie lange doch? Drei, vier Jahre. Oder mehr? Damals nachts, in dem engen, verräucherten Lokal: Helmut hat auf dem Tisch gestanden und im Stil von »Seid umschlungen, Millionen« von einer utopischen Weltanschauung geschwärmt.

      Sie haben viel getrunken an diesem Abend. Die jungen Männer sind immer lauter geworden. Einer ist aufgestanden und hat gerufen: »Wir verheiraten euch! Los, kniet nieder, fasst euch an den Händen und sprecht mir nach …«

      Ein Unfug zu nächtlicher Stunde! Ein Frevel an etwas Heiligem! Eine Nacht voller Sünde. Am Morgen das Erwachen in einem leeren Bett. Helmut ist fort gewesen.

      Sie hat erst eine Woche später erfahren, dass man ihn verhaftet hat, dass er einen SD-Mann niedergeschlagen hat und dass er mit fünf Jahren Zuchthaus bestraft worden ist.

      Und dann? Das blonde Mädchen vor der Schreibmaschine schließt die Augen, legt den Kopf in den Nacken und denkt nach.

      Dann ist der andere gekommen, ein Offizier. Gleich in den ersten Kriegstagen ist er in Frankreich gefallen. Der nächste hat Bertram geheißen und ist Flieger gewesen. Auch er ist gestorben – gestorben wie die Erinnerung an jene verrückte Nacht in einer verräucherten Kaschemme.

      Die Tür geht auf. Wendt kommt herein.

      »Na, was ist? Kriegen wir Leute?«, fragt er.

      »Ja. Brinkmann schickt uns Zuchthäusler. Wir können in Berlin-Zehlendorf anfangen.«

      Wendt reibt sich die Hände. »Fein, fein! Großartig gemacht, Ingelein. Ich werde Sie für einen Orden vorschlagen.«

      »Danke«, sagt sie gleichgültig und beginnt das Antwortschreiben an den Generalinspekteur zu tippen.

      Am nächsten Morgen trifft der Schub Zuchthäusler ein. Man bringt sie in einem Lkw, bewacht von Justizbeamten.

      Um zehn fährt Wendt mit Inge Grotius zur Baustelle hinaus. Es regnet in Strömen. Im Grau des Tages stehen zwölf gestreifte Gestalten und schauen mit stumpfen Mienen herüber.

      Inge bleibt im Wagen sitzen. Um Gottes willen, denkt sie beklommen, sieht Helmut inzwischen auch so aus wie diese dort?

      An diesem Vormittag erwacht in Inge Grotius der Wunsch, nachzuforschen, was aus jenem Mann geworden ist, mit dem sie einstmals in frevelhafter Ausgelassenheit verbunden war.

      »Ich heiße Hauptfeldwebel Schimanek«, stellt er sich mit ausgeschriener Stimme vor. »Und jetzt werde ich euch etwas sagen: Für mich seid ihr alle Sauköpfe! Verstanden?«

      »Jawohl«, murmelt der Haufen.

      »Ab heute«, fährt Spieß Schimanek fort, »seid ihr bei der 3. Kompanie. Das Bataillon heißt 999. Unser taktisches Zeichen ist ein V mit einem Strich darunter. Das heißt für euch: Strich unter die Vergangenheit. Ist das jedem klar?«

      »Jawohl!«

      »Hier seid ihr alle gleich«, verkündet Schimanek weiter. Hinter ihm steht das Stammpersonal und nickt der Rangordnung nach. »Wir machen jeden zur Schnecke, der glaubt, hier seine Schweinereien weitermachen zu können. Eine bedingte Wehrwürdigkeit gibt es bei uns nicht. Das ist eine Floskel, die ihr euch gleich aus dem Kopf schlagen müsst. Soldbücher kriegt ihr erst, wenn ihr bewiesen habt, dass ihr Soldaten seid. Im Übrigen verweise ich auf den Aushang am schwarzen Brett. Dort steht alles, was ihr wissen müsst. Eure Ausbildung wird hart, aber gerecht sein! Ich bin dafür verantwortlich, dass …«

      Ein kleiner Zwischenfall unterbricht seine Ausführungen. Im hintersten Glied der Sträflinge nieste jemand mit langgezogenem »Hatschiii«.

      »Wer war das?«, brüllt Schimanek.

      Eine zebragestreifte Gestalt tritt vor, eine ungeschlachte Figur mit dümmlichem Gesicht, abstehenden Ohren und hängenden Gorillaarmen, Xaver Bunser heißt der Mann. Er hat vor vier Jahren zwei Bauernhöfe angezündet, weil er als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr von Kornbach auf Brände gewartet hat, und es einfach nirgendwo hat brennen wollen. Da hat der Xaver selbst Feuer gelegt, ist als Erster an der Brandstätte gewesen und hat sich so fleißig am Löschen beteiligt, dass er eine Belobigung vom Feuerwehrhauptmann bekommen hat. Hernach, im Wirtshaus, als man angefangen hat, den Brand in der Kehle zu löschen, hat der Xaver nach der zwölften Halben angefangen, von seiner Brandstiftung zu erzählen. Man hat ihn ordentlich verdroschen, und vom Gericht ist er zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden.

      Xaver Bunser ist ein Klotz von einem Kerl, und wenn er sein asymmetrisches Grinsen aufsetzt, bringt es kein noch so grober Vollzugsbeamter fertig, ihm den Knüppel überzuziehen.

      »Du Saukopp!«, brüllt Schimanek den Brandstifter aus Niederbayern an. »Willst du mich verarschen?«

      »Na, na«, wehrt der Xaver kopfschüttelnd ab, »’s war halt so saukalt im Waggon, Herr Major.«

      Das Stammpersonal feixt. Spieß Schimanek schielt den Kerl misstrauisch an. Da explodiert ein zweiter Nieser. Schimanek weicht erschrocken zurück. Die Sträflinge brechen in ein wieherndes Gelächter aus, und das macht Schimanek so böse, dass er rot anläuft.

      »Aus!«, brüllt er.

      Es wird still. Auch der Brandstifter wagt es nicht, sein entwaffnendes Grinsen aufzustecken.

      Schimaneks Blick wird schmal. »Das war sehr lustig«, sagte er mit drohender Stimme. »Ich werde euch Zeit geben, euch zu beruhigen. Scher dich weg, du Saukopp!«, blökt

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