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      Matthias Wittekindt wurde 1958 in Bonn geboren und lebt heute in Berlin. Nach dem Studium der Architektur und Religionsphilosophie arbeitete er in Berlin und London als Architekt. Es folgten einige Jahre als Theaterregisseur. Seit 2000 ist er als freier Autor tätig, schreibt u. a. Radio-Tatorte für den NDR. Für seine Hörspiele, Fernsehdokumentationen und Theaterstücke wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bei Edition Nautilus erschienen bisher die Kriminalromane Schneeschwestern (2011), Marmormänner (2013) und Ein Licht im Zimmer (2014) mit demselben Ermittlerteam. Für Marmormänner wurde er mit dem 3. Platz des Deutschen Krimipreises 2014 ausgezeichnet.

      Matthias Wittekindt

      DER UNFALL IN DER

      RUE BISSON

      Kriminalroman

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      Edition Nautilus GmbH

      Schützenstraße 49 a

      D - 22761 Hamburg

       www.edition-nautilus.de

      Alle Rechte vorbehalten

      © Edition Nautilus GmbH 2016

      Originalveröffentlichung

      Erstausgabe August 2016

      Umschlaggestaltung:

      Maja Bechert, Hamburg

       www.majabechert.de

      Autorenporträt:

      © Wenke Seemann

      ISBN 978-3-96054-019-9

      Inhalt

       DER UNFALL IN DER RUE BISSON

      Am Freitagabend um zehn nach sieben ist noch nichts entschieden.

      Alain hat zwei Stunden lang gegen June Tennis gespielt. In der Halle des Centre Fleur, denn draußen regnet es in Strömen.

      Die Frauen aus seinem Freundeskreis verstehen nicht, warum er ausgerechnet mit ihr so regelmäßig spielt. June ist weder schön noch auffallend geistreich und selten von irgendetwas zu begeistern. So spielt sie auch Tennis. Mit einer Zähigkeit, die ihre Gegner am Ende einfach zermürbt. Alain tritt gegen keine lieber an als gegen sie.

      Beim Duschen nach dem Spiel spürt er, wie sein Herz das Blut durch die Adern drückt, wie schnell sich sein Körper von der Anstrengung erholt. Einen Moment lang fühlt er sich aus allem herausgehoben, ja beinahe unsterblich.

      Nach dem Duschen trocknet er sich ab, was er stets etwas hastiger tut als die anderen Männer. Obwohl er gut aussieht und einen durchtrainierten Körper hat, wäre er niemals auf die Idee gekommen, sich langsam abzutrocknen, sich womöglich ein paar Sekunden lang unverhüllt zu zeigen. Manche tun so was ja gerne.

      Vielleicht hängt sein scheues Benehmen damit zusammen, dass er jünger ist als die meisten Männer, die ins Centre Fleur gehen, um sich auszupowern. Vor zwei Wochen ist er 28 geworden, wirkt aber eher wie Anfang 20. Dazu kommt, dass Alain eher weibliche Gesichtszüge hat. Wohl deshalb trägt er immer teure und geschäftsmäßige Anzüge. Solche, wie nur Männer sie tragen. Seine Schuhe sind noch edler, wobei er stets welche wählt, die ausgesprochen rustikal wirken.

      Nachdem er sich angezogen hat, blickt Alain durch ein Fenster nach draußen. Viel ist nicht zu sehen, denn es wird bereits dunkel. Es ist kurz vor Ostern, die Möglichkeit eines vorgezogenen Frühlings hatte sich Mitte März angedeutet, doch es war wieder kälter geworden. Jetzt regnet es seit Tagen bei Temperaturen um die zehn Grad, und die Böden sind so vollgesogen, dass nichts mehr versickert. Auf den gepflügten Äckern hat er von der Straße aus große Wasserflächen gesehen. Wasser sammelt sich auch in den selten bepflanzten Balkonkästen der Cité Nord, auf den geteerten Flachdächern und in den Spurrillen älterer Straßen.

      Es ist jetzt Viertel nach sieben.

      Nachdem Alain sich angezogen und sorgfältig gekämmt hat, geht er ins Lacombe, eine Mischung aus Restaurant und Kneipe, zu der nur Mitglieder des Centre Fleur Zugang haben. Eine gut gekleidete Frau, die er nicht kennt, kommt an seinen Tisch, beginnt ein Gespräch. Dabei zeigt sie nach draußen und sagt, es würde wohl noch ein paar Tage so weitergehen mit dem Regen. Alain bleibt wie immer höflich, gibt ihr aber, als sie das Gespräch in eine andere Richtung lenkt, zu verstehen, dass er an einer näheren Bekanntschaft nicht interessiert ist.

      Um zwanzig nach sieben kommt sein Freund Michel und setzt sich zu ihm. Sie bestellen zwei Bier, und Alain fragt, ob sie nicht noch zum Bahnhof gehen sollen. Michel hat keine Lust. Also trinken sie. Später kommen noch Nina und ein paar aus dem Freundeskreis. Yvonne sitzt alleine an der Bar, was sie sonst nicht tut, und Nina erzählt etwas Lustiges, über das auch gelacht wird. Alain lacht nicht über Ninas Geschichte. Vielleicht hat sie zu viel getrunken. Er findet jedenfalls, dass sie ein bisschen merkwürdig, ein bisschen überdreht ist.

      Und doch hat nichts auf eine Bedrohung hingedeutet.

      Wäre Alain unter normalen Umständen drei Tage später nach dem Abend befragt worden, er hätte vermutlich gesagt, es sei wie immer gewesen. Zehn Tage später hätte er sich möglicherweise an nichts mehr erinnert.

      Es geht alles zu schnell.

      Weil sie wütend ist. Auf eine Art, die ihr guttut, denn sie hat sich durchgesetzt und ist dabei, in Ordnung zu bringen, was sie angerichtet hat.

      Wie gut, dass sie sofort gehandelt und sich reingestürzt hat, denn sie kennt sich. Wenn sie erst mal damit begonnen hätte, alles abzuwägen, die Gefühle der anderen, die Gefahren, die Möglichkeit zum Beispiel, dass am Ende die Polizei vor ihrer Tür steht, hätte sie angefangen zu zweifeln und am Ende nichts unternommen. Yvonne gehört zu den Frauen, die sich auf ihre Intelligenz verlassen, auf ihre Fähigkeit zu kommunizieren. Aggressiv eingreifen, das gehört für gewöhnlich nicht zu ihrem Repertoire. Wie hat sie neulich gesagt: ›Es mag Frauen geben, die stolz darauf sind, sich bei allem durchzusetzen. Ich gehöre nicht zu der Sorte.‹

      Ein paar Tage noch, dann ist Ostern. Sie wird eine Freundin besuchen. Das ist lange abgemacht und wird, da ist sie sich sicher, auch stattfinden. Wir denken uns ja oft ganz unbesorgt in eine konkrete Zukunft hinein. Wahrscheinlich wird sie ihrer Freundin wieder einen Korb mit blühenden Pflanzen mitbringen, weil die einen Garten hat. Sie wird auch dem Sohn ihrer Freundin etwas mitbringen, denn sie ist seine Patentante. Sie selbst hat noch keine Kinder, aber sie ist auch erst 29. Trotzdem hat sie zu dem Sohn ihrer Freundin ein so nahes Verhältnis, kümmert sich so liebevoll um ihn, als würde sie schon jetzt wissen, dass sie nie Kinder haben wird. Solche Vorahnungen hat sie manchmal. Und niemand rechnet natürlich damit, dass ein Leben mitten im Normalen auf einmal zu Ende sein könnte.

      Ihr Zorn hat Einfluss auf die Geschwindigkeit, und im Moment denkt sie weder an Ostern, noch an ihr Patenkind und schon gar nicht an den Tod. Alles in Yvonnes Kopf geht wahnsinnig schnell, aber natürlich wägt sie auch in diesem Tempo noch immer Möglichkeiten ab. Möglichkeiten, in denen die Polizei eine zwar ungenaue, aber doch bedrohliche Rolle spielt.

      Rot. Man sieht ihr Auto trotz des Regens. Sie hat die Scheinwerfer eingeschaltet. Deren Licht sieht man im Regen. Deren Licht sogar am besten.

      Sie steuert ihren Alfa Romeo auf einen Kreisverkehr zu, sieht dort ein Auto und erschrickt. Sie beschleunigt, schafft es und verlässt den Kreisverkehr gleich an der ersten Ausfahrt.

      Die Rue Bisson.

      Alleebäume.

      Als

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