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hatte Naomi schon gesehen. Alices riesiges Schlafzimmer hatte sie sich kaum anschauen können, aber jetzt konnten sie ungestört darin herumstöbern. Naomis Blick fiel auf ein großes Gemälde, das bis zum Boden reichte. Es war irgendwas Abstraktes; kaum mehr als drei schwarze Balken auf einem roten Hintergrund.

      «Das ist ein Rothko. Frag nicht, wie viel sie für diesen Quatsch bezahlt haben.»

      «Und was ist das hier?»

      Naomi zeigte auf das immense Skelett, das einen großen Teil des Schlafzimmers mit Beschlag belegte.

      «Das da? Wer weiß. Irgendein prähistorisches Tier, denke ich. Wenn mich ein Milliardär fragen würde, was ich mir zum Geburtstag wünsche, dann würde ich mir etwas anderes aussuchen als einen Haufen alter Knochen. Die Kleine ist eigenartig, und das ist noch gelinde gesagt.»

      «Ich hatte es mir hier anders vorgestellt.»

      «Wie denn?»

      «Mehr Gold. Mehr Marmor.»

      «Fußböden aus Diamant und Brunnen, aus denen Wein sprudelt?»

      «So in etwa.»

      «Sie brauchen keine goldenen Wasserhähne und keine zimmerbreiten Fernsehbildschirme, um zu zeigen, wie reich sie sind. Sie zeigen es mit den riesigen Räumen, der Schwimmhalle und Alices Schlafzimmer, falls man das noch als Zimmer bezeichnen kann. Und mit dem hier. Hörst du das?»

      «Ich höre nichts.»

      «Genau. Das ist Stille. Unbezahlbar. Sie kommt nicht nur durch die Teppiche und das dicke Glas. Das hier ist die Ruhe von Menschen, die sich nicht zu beeilen brauchen, weil die Welt auf sie wartet.»

      Lucy hatte ihr eigenes Zimmer mit Schränken voller Spielzeug und in der Mitte des Raums einen kleinen Park, in dem das Tier herumtoben konnte, wenn es draußen zu kalt war.

      «Zum Glück keine Hundekleidung. Die Prinzessin findet es lächerlich, Tiere so anzuziehen, als wären sie Menschen.»

      Umso beeindruckender dagegen war Alices Kleiderschrank. Es war weniger ein Schrank als vielmehr ein Flur – breit genug, um mit einem Bett hindurchzufahren – mit Schränken links und rechts, voll mit Shirts und Sweatern und Schüben, die vor feiner Unterwäsche überquollen, sowie Stangen um Stangen voll Kleider, manche in Kleiderhüllen. Das Ende des Flurs führte in ein eigenes kleineres Zimmer mit einem großen Spiegel an der Wand sowie Schränkchen, in denen die Gürtel, Handtaschen, Kettchen und Haarnadeln lagen. Anika strich mit dem Finger über den Rand des Spiegels, der daraufhin aufschwang. Dahinter verbarg sich eine kleine Metalltür.

      «Ich konnte selbst noch nicht in diesen Safe hineinschauen, aber Betty zufolge lohnt es sich. Juwelen so groß wie Taubeneier.»

      «Ich habe keine Ahnung, wie groß ein Taubenei ist», sagte Naomi.

      «Es wird in jedem Fall dicker sein als dieser Plunder hier», sagte Anika und zeigte Naomi den Diamantring an ihrem kleinen Finger. «Den hat sie mir mal geschenkt, als sie gut gelaunt war. Er passte ihr ohnehin nicht, und sie dachte wohl, ich würde mich über ihre ausrangierten Sachen freuen.»

      «Und hast du dich gefreut?»

      «Warum sollte ich dankbar sein müssen? Ein Ring mehr oder weniger bedeutet für sie doch gar nichts. Hier drinnen», Anikas Fingern glitten über die Tresortür, «liegt so viel Schmuck, dass sie kaum mehr weiß, was sie besitzt. Dieser Ring ist doch nur ein Krümel für sie.»

      Sie spielte mit dem Zahlenschloss.

      «Ich denke, wir lassen besser die Finger von allem», sagte Naomi.

      Anika drehte ein paarmal an dem Knopf, doch nichts geschah.

      «Ich brauche es nicht zu sehen. Es würde mich doch nur unglücklich machen.»

      «Komm, wir hören auf», sagte Naomi. «Ich habe mittlerweile alles gesehen.»

      «Noch nicht», sagte Anika.

      Sie schob die Wand weg, auf der die Taschen ausgestellt waren. Dahinter, im Schein einer indirekten Beleuchtung, standen ganze Regale voller Schuhe.

      «Hierher komme ich ab und zu, wenn es mir zu viel wird», sagte Anika.

      «Magst du Schuhe denn so sehr?»

      «Nein. Dafür aber die Tatsache, dass ich darin laufen kann und sie nicht.»

      Sie zeigte Naomi die Sauna, die Turnhalle, in der Alice ihre physiotherapeutischen Übungen bekam, und als letzte Überraschung zeigte sie ihr das Puppenzimmer. In dessen Mitte stand ein enormes Puppenhaus, und Hunderte von Puppen starrten sie von den Regalen an den Wänden aus an.

      «Das war nicht ihre Idee. Opa Babel wollte, dass sie sich wie zu Hause fühlt, als sie nach dem Attentat hier eingezogen ist. Warum er dachte, dass sich eine fast Vierzehnjährige in einem Zimmer voll mit diesen verfluchten Puppen wohlfühlen würde, ist mir schleierhaft. Geschäftlich mag er ja ein großes Genie sein, aber von jungen Mädchen hat er keine Ahnung.»

      «Fräulein Alice war mit dem Zimmer nicht zufrieden?»

      «Sie nennt es ihr Gruselkabinett. Sie findet es allerdings lustig, denke ich, also lässt sie es einfach so. Übrigens würde sie nie etwas tun, was den alten Mann verletzen könnte. Obwohl er meiner Meinung nach inzwischen weiß, dass sie andere Interessen hat. Als er sie fragte, was sie sich zu ihrem fünfzehnten Geburtstag wünschte, hat sie sich für dieses Monster in ihrem Schlafzimmer entschieden.»

      «Das Skelett?»

      «Ja. Mein Ding wäre es nicht, aber jedenfalls hat es Babel klargemacht, dass er nicht noch mehr Puppen anschleppen sollte.»

      Sie schloss die Tür des Puppenzimmers.

      «Ich bin froh, dass ich hier nicht abstauben muss. Die ganzen Augen würden mich verrückt machen.»

      Anika schien jeden Tag etwas mehr von ihrer Kühle zu verlieren. Offenbar war Hans ihr doch nicht so gleichgültig, wie sie es zunächst vorgegeben hatte. Auch sie war an ihm interessiert. Also war dies für Anika genau der geeignete Moment, seine Nähe zu suchen. Keine Arbeit und keine Betty. Die Aufgaben, um die sie nicht herumkam, wälzte sie ganz einfach auf Naomi ab, deren Belohnung aus immer mehr Zugang zu Alices Räumlichkeiten bestand. Sie nahm Naomi mit in Alices Privatkino, komplett mit Popcornmaschine. Sie zeigte ihr die versteckten Zimmer im Herzen des Stockwerks, ein Zimmer, das auf den ersten Blick nichts Mysteriöses hatte, mit einem glatten Parkettfußboden, großen, goldgerahmten Spiegeln an den Wänden und einer Decke, die mit lachenden, hinter Wolken hervorlugenden kleinen Engeln bemalt war. Eine Reihe von immer kleiner werdenden Naomis schob sich mit ihr mit, als sie sich über das Parkett bewegte.

      «Das hier ist der Tanzsaal. Nicht das Lieblingszimmer unserer Prinzessin. Für sie keine Bälle und keine Prinzen. Daher ist er auch meistens abgeschlossen.»

      Als Naomi meinte, alles gesehen zu haben, nahm Anika sie eines Tages mit in die Orangerie. Es war ein kleiner Raum, der sich an Alices Schlafzimmer anschloss und somit auch eine Glaswand mit Blick über die Stadt besaß. Der Raum war leer. Nur in der Decke war ein Loch, durch das Luft gesaugt wurde.

      «Einen Augenblick», sagte Anika, als sie Naomis fragenden Blick bemerkte. «Das hier ist lediglich die Schleuse.»

      Die Tür zwischen dem kleinen Raum und Alices Schlafzimmer klickte zu, und im selben Moment öffnete sich die Wand vor ihnen. Eine plötzliche Hitze schlug Naomi entgegen.

      Anika schob sie weiter in einen Saal, der kein Saal mehr war, sondern ein Urwald. Sie liefen über einen breiten Pfad zwischen Bäumen, Sträuchern, Lianen und Blumen hindurch. Naomi bückte sich, als eine grüne Wolke auf sie zugeflogen kam. Es war ein Schwarm von Sittichen, der mit viel Gezwitscher auf den Ästen über ihrem Kopf landete. Die beiden gingen weiter. Rote und gelbe Flecken in den Büschen streckten sich aus, bekamen Flügel oder baumelten kopfüber von den Zweigen und pfiffen, als ginge es um ihr Leben. In dem, was vermutlich die Mitte des Saals war, obwohl man hier keine Wände sehen konnte und der Wald sich endlos weit fortzusetzen schien, stand ein langer Holztisch. Anika holte einen Lappen aus einer

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