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      Falls überhaupt ein Prinz dort unten auf sie wartete – und mit einem, der sich mit einer gelähmten Prinzessin zufriedengab, wäre es wohl auch nicht weit her –, dann würde sie ihn nicht einmal sehen, denn aus dieser Höhe konnte man kaum eine Bewegung am Boden unterscheiden. Für die Bewohner des Turms war das ein Bonus. Sie brauchten den schlechten Atem und den Schweiß des Pöbels nicht zu riechen, die lahmenden Beine, die fingerlosen Hände, die Geschwüre und Beulen, die billige synthetische Kleidung, die Löcher in ihren Hosen und ihren Seelen nicht zu sehen. Die Apartments des Turms waren nicht deshalb begehrt, weil man näher bei den Göttern wohnte, sondern lediglich weiter weg von den anderen war, die das Unglück besaßen, nicht in Babel zu residieren.

      Alice hätte mit jedem von ihnen tauschen mögen, sämtliche Beulen eingeschlossen. Die Eigentümer der Beine, die dort durch die Straßen gingen, machten sich nicht klar, wie glücklich sie waren.

      Sie fuhr das Bett zurück zur Wand. Sie brauchte die Stadt nicht zu sehen. Der Glanz des Meeres in der Ferne genügte ihr. Von hier aus konnte man beobachten, dass der Horizont keine gerade Linie, sondern ein Bogen war. Die Erde war nicht flach, was immer die alten Bücher auch behaupteten. Kein Wunder, dass die religiösen Irren den Turm weghaben wollten. Er kratzte an ihrem Weltbild.

      Ein Vogel schoss vor das Fenster. Ein Schatten, ein Bündel Federn, ein Auge, ein Schnabel; dann war er wieder weg. Sie sah ihn etwas weiter entfernt mühelos auf dem Wind gleiten. Die launischen Böen zwischen den Wolkenkratzern kümmerten ihn nicht. Er war eines der vielen wilden Tiere, die immer öfter in der Stadt auftauchten. Wohin sollten sie sonst, nachdem die Stadt die Natur verdrängt hatte? Hasen und Wildschweine suchten genau wie die anderen Wohnungslosen ihr Heil in den Straßen, Hirsche kauten an Müllsäcken, Füchse stritten sich mit zahnlosen Alkoholkranken um irgendwelche Hühnerknochenreste, Falken lebten von den verwilderten Tauben, Dachse gruben sich Burgen in Abwasserkanäle, und die Wölfe hatten schon bald gelernt, aufrecht zu gehen.

      Der Vogel schwebte da immer noch. Sie wusste nicht, wie er das machte, aber plötzlich stand er still, eine Stecknadel in diesem blauen Himmel. Sie hielt den Atem an. Sie hätte ihn gern so festgehalten, reglos, die Nabe des Himmels. Solange er dort hing, stand die Zeit still.

      Er blieb hängen, bis sie blinzeln musste und ein Zittern ihn durchfuhr. Er tauchte, riss einen Streif in den Himmel, und die Stadt kam in Bewegung. Autos schossen vorwärts, Lichter sprangen an, und irgendwo tief unten erklang der Schrei eines Hasen in Todesangst.

      Da erst bemerkte sie das Mädchen, das in ihrem Zimmer stand. Es war unmöglich, dass eine Unbekannte bis in ihr Zimmer vordrang. Sie wurde besser bewacht als das Gold in der Nationalbank. Aber egal ob unmöglich oder nicht, da stand dennoch ein Mädchen, und außerdem auch noch in einem weißen BH, und starrte nach draußen, wo ihr die Stadt in all ihrer Herrlichkeit zu Füßen lag.

      Das Mädchen hatte sie eindeutig noch nicht bemerkt, so fasziniert war sie von der Aussicht.

      Alice griff nach dem Kontrollpanel, bereit, den Wachdienst zu alarmieren.

      «Wie gefällt dir der Ausblick?», fragte sie.

      Das Mädchen erschrak und drehte sich um.

      «Kommst du, um mich umzubringen?»

      Das Mädchen schüttelte den Kopf.

      «Schön. Damit wäre das schon mal abgehakt.»

      Das Mädchen schien etwas älter als sie selbst zu sein. Ihr langer, schwarzer Zopf lag ihr wie eine Schlange im Nacken.

      «Was hast du hier zu suchen?»

      Es klang unfreundlicher, als sie es beabsichtigt hatte. Sie wusste, was das Mädchen hier tat. Der Schwamm in ihrer Hand verriet einiges. Die Grippeepidemie erklärte den Rest. Dieses Mädchen war die Vertretung der Putzhilfe. Darauf hätte sie auch sofort kommen können, aber in ihrer Überraschung hatte sie nicht nachgedacht. Sie hatte keine Ahnung, warum das Mädchen hier in ihrem BH herumlief, aber vielleicht konnte Hans ihr das erklären. Er hatte so seine eigenen Methoden, das weibliche Personal zu kontrollieren. Wahrscheinlich war sie, des Putzens überdrüssig, auf Erkundung ausgegangen. Welches Mädchen konnte einer geschlossenen Tür widerstehen? Aber schlau war es nicht. Prynne war recht unsanft zu Personal, das Eigeninitiativen entwickelte.

      «Wolltest du einmal aus dem Fenster schauen?»

      «Es tut mir leid», sagte das Mädchen. «Ich bin neu hier. Würden Sie bitte niemandem sagen, dass ich hier war, Frau …?»

      Frau! Das war der Gipfel.

      «Wie heißt du?»

      «Naomi.»

      Keine unnütze Anrede diesmal.

      «Leg den Schwamm auf den Boden und hilf mir, mich hinzusetzen.»

      Das Mädchen zog sie an den Armen nach vorn und schob ihr ein Kissen hinter den Rücken. Sie roch nach Lavendel.

      «Wie gefällt dir die Aussicht?», fragte sie.

      Genau in diesem Moment schoben sich dicke Wolken vor die Sonne. Ein goldener Balken spielte über der Stadt, ein Laser Gottes auf der Suche nach dem letzten Rechtschaffenen.

      «Ich weiß es nicht», sagte das Mädchen.

      «Du weißt es nicht?», fragte Alice. «Dann bist du die Erste. Hier ist noch nie jemand gewesen, der nicht sofort von der Aussicht angefangen hätte. Alle finden sie unbezahlbar. Diese Idioten. Natürlich ist sie bezahlbar. Woher sonst sollte Großvater sein Geld nehmen?» Sie redete zu viel, sie hörte es selbst. Das Mädchen starrte sie an.

      «Was denkst du?»

      «Es ist hoch», sagte das Mädchen.

      «Nein, im Ernst? Du befindest dich an der Spitze der Welt, und alles, was dir dazu einfällt, ist, dass es hoch ist? Niemand auf der ganzen Welt befindet sich höher als wir. Ausgenommen natürlich die Passagiere in Flugzeugen.»

      «Und Gott», sagte das Mädchen.

      Da lag sie also und bekam ungebeten Gott ins Gesicht geschleudert. Sie wusste nicht, warum, aber diese Naomi irritierte sie. Sie gab sich nur wenig Mühe, sich zu entschuldigen, dass sie hier ungebeten stand, sie schämte sich nicht für die Tatsache, dass sie in ihrer Unterwäsche herumlief, sie war nicht beeindruckt von der Aussicht oder von der Situation und noch am wenigsten von dem armen, gelähmten Mädchen in dem Bett. War ihr denn nicht klar, dass Alice sie stehenden Fußes entlassen konnte? Sie brauchte nur mit den Fingern zu schnippen! Es wurde Zeit, dass jemand sie in ihre Schranken wies.

      «Würdest du mir einen Gefallen tun, Naomi? Es juckt mich so am Fuß. Würdest du mich da kratzen?»

      «Was?»

      Sie zeigte auf die Stelle unter ihrer Bettdecke, wo sich ihre Füße befinden mussten.

      «Mich juckt es am Fuß.»

      Das Mädchen schaute sie an. Wenn Blicke töten könnten!

      «Na los. Heb die Decke hoch.»

      «Welcher Fuß ist es?»

      «Kratz mich einfach an beiden.»

      Naomi hob ihren linken Fuß hoch.

      «Ist das gut so?»

      «Fester», sagte Alice.

      «Ist es so besser?»

      «Fester!», rief Alice.

      Sie betrachtete diesen störrischen Mund, diese Rehaugen, die vor Wut loderten. Ach, dieses Wesen hasste sie, das war klar. Wie schnell waren sie von zwei Mädchen in einem zu großen Zimmer zur Herrin und Dienerin hinabgesunken. Sie hat recht, wenn sie mich hasst, dachte Alice, und ich habe recht, wenn ich sie vor mir knien lasse. Sie hat ihren Gott, aber ich habe das Geld.

      Dann ließ das Mädchen ihren Fuß fallen.

      «Was ist?», fragte sie.

      Naomi hatte Blut an den Händen. Sie hatte so fest gekratzt, dass sie die Haut der Fußsohle verletzt hatte. Das war nicht unnormal,

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