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Babel. Jan de Leeuw
Читать онлайн.Название Babel
Год выпуска 0
isbn 9783772543227
Автор произведения Jan de Leeuw
Издательство Bookwire
«Alles gelogen natürlich», sagte Naomi.
«Nicht alles.»
Er setzte sich auf den Rand der Muschel.
«Weißt du, was das Problem ist? Frauen finden, dass ich zu schnell vorgehe. Ich bin genau wie du, Naomi. Direkt. Frauen wollen das nicht. Obwohl ich ihnen damit einen großen Dienst erweise. Ich verzichte gern auf diese ersten Dates, die Verabredungen zum Essen oder fürs Kino, und erst recht auf die langen Gespräche, um sich gegenseitig besser kennenzulernen. Ich gönne Frauen die nötige Distanz. Sie können sein, wer sie sein wollen. Tausende von Frauenrollen können sie annehmen, die eine noch mysteriöser als die andere. Aber nein, mit jeder Frage nach meiner Lieblingsfarbe, mit jedem Aufstoßen ihrer unverdauten Vergangenheit, mit jeder schlechten Erfahrung im Job und mit jeder zutiefst persönlichen Meinung, die sie mit dem Rest der Weltbevölkerung teilen, schrumpfen sie, bis sie weiter nichts mehr sind als ein banales Stück Fleisch, aus dem sich sämtlicher Biss und Geschmack verflüchtigt hat. Ich gebe ihnen Unmengen an Gold und Glamour, und sie geben mir Nachbarschaftsstreitigkeiten und verschlissenes Bettzeug. Das ist kein fairer Tausch.»
Er streckte seine Hand nach ihr aus.
«Bist du eine von ihnen, Naomi? Will du mich auch mit deinen trivialen Träumen und deiner tristen Vergangenheit langweilen? Oder willst du im Hier und Jetzt leben? Den Augenblick genießen, der sich uns bietet?»
Sie berührte seine ausgestreckte Hand nicht.
«Hat diese Ansprache jemals funktioniert?», fragte sie ihn.
Er ließ seine Hand sinken.
«Öfter, als du dir vielleicht vorstellst.»
Er betrachtete seine Fingernägel.
«Du kannst die Brause ruhig zurückhängen. Es muss anstrengend sein, das Ding so lange zu umklammern. Und deinen anderen Arm darfst du auch sinken lassen.»
Naomi bewegte sich nicht.
«Auch gut. Misstrauen über allem.»
Er stand auf und entfernte sich. An der Badezimmertür drehte er sich um.
«Was erwartest du vom Leben, Naomi?»
«In Ruhe gelassen zu werden.»
Er lachte.
«Ein unmöglicher Wunsch. Das Leben lässt einen nicht in Ruhe. Es ist ein wilder Ritt, aus dem man nur auf eine Weise aussteigen kann, und die ist wiederum zu ruhig, selbst für dich.»
«Ich liebe die Ruhe.»
«Dann darfst du aber nicht so aussehen, wie du aussiehst, und nicht so aus den Augen schauen, wie du es tust.»
«Wie denn?»
«Schlummernd. Wie ein Vulkan oder ein Selbstmordterrorist auf dem Weg zu seinem Ziel. Oder wie eine Frau, kurz bevor sie sich über ihre letzten Bedenken hinwegsetzt.»
«Ich bin nichts von alledem.»
«Schade. Das war ein interessantes Gespräch, Naomi. Das Resultat war zwar nicht das, was ich mir erhofft hatte, aber ich freue mich auf unsere nächste Begegnung.»
Die Tür fiel ins Schloss.
Sie wartete eine Viertelstunde, öffnete dann vorsichtig die Badezimmertür und schaute hinaus in den Flur. Alles war ruhig. Keine Prynne und kein Lichtenstern zu sehen. Sie schlich hinaus, und keine maskierten Wachleute kamen auf sie zu gerannt. Vor einer der Türen blieb sie stehen und drückte auf die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen. Leise schob sie sie einen Spaltbreit auf. Ein weißes Licht fiel auf den Flur. Es dauerte etwas, bis ihr bewusst wurde, was sie sah, und dann trat sie fasziniert in das Zimmer.
Sobald die Frau auftauchte, schwoll die Panik an. Alice wusste, was passieren würde. Sie wollte ihren Vater warnen, aber die Angst ließ sie gefrieren. Sie konnte sie alle retten. Sie brauchte nur ihre Hand auf seinen Arm zu legen, mehr nicht. Aber sie war erstarrt. Gelähmt. Sie wollte schreien, aber ihre Kiefer klemmten.
Sie sah, wie die Frau mit dem Kind in den Armen auf das Auto zukam, wie ihr Vater das Fenster hinunterließ und wie Großvater eine Warnung schrie. Ihr blieb genügend Zeit, alle noch ein letztes Mal anzusehen – die erstaunten Gesichter ihrer Mutter und Großmutter, als sich der Mantel der Frau öffnete. Danach weckte der Lärm der Explosion sie auf, so wie fast jeden Tag.
Meistens war sie erleichtert, wenn sie die vertraute Umgebung wiedererkannte. Aber heute fühlte sich das Zimmer fremd an. Bestimmt kam es daher, weil ihre Routine durcheinandergebracht war. An anderen Tagen blieb ihr morgens kaum Zeit, den letzten Zipfel ihres Croissants hinunterzuwürgen, bevor Betty und Anika bereitstanden, um sie zu waschen, schnellschnell, denn jeden Augenblick konnte die alte Frau Holtby mit einer neuen Ladung Unterrichtsstoff ins Zimmer treten, noch bevor Bert und Leonard sie für ihre Übungen holen kamen.
Aber Frau Holtby war krank. Das hatte sie gestern von einer überarbeiteten Anika vernommen, die nicht wusste, wo ihr der Kopf stand, nachdem die Grippe jetzt auch Betty und den Großteil des A-Personals niedergestreckt hatte. Keinen Unterricht? Das musste sie ausnutzen. Sie würde den ganzen Morgen im Bett bleiben.
Ihr Blick folgte einem dünnen Sonnenstrahl, der durch die Vorhänge gedrungen war und jetzt über das Parkett kroch; ein goldener Finger aus Licht und tanzendem Staub.
Die Routine, die sie wie eine eiserne Lunge umschloss, war das Werk ihres Großvaters. Er wollte vermeiden, dass sie in düstere Gedanken verfiel. Als ob die sich zurückhalten ließen. Sie war gefangen in ihrem Körper, einem Klumpen Fleisch, der von anderen gewaschen und angekleidet werden musste.
Alle taten so, als ob sie noch eine Zukunft hätte. Holtby bereitete sie auf die Universität vor. Dachten sie denn wirklich, sie käme mitsamt ihrem Bett in den Hörsaal gefahren? Auf beiden Füßen oder gar nicht, Großvater!
Ja, ihren Großvater, den hatte sie noch. Sein Geld und seine Liebe hielten sie am Leben – und seine Trauer, die auch die ihre war und über die sie nie sprachen. Er war der letzte Faden, mit dem sie noch am Leben hing. Wenn er verschwand, dann würde sie zusammen mit dem herrenlosen Müll in den gleichgültigen Straßen verwehen. Er war der Grund, weshalb sie nicht aufgab, weshalb sie sich zusammen mit Holtby über die Broschüren der verschiedenen Universitäten beugte und Tag für Tag die Physiotherapeuten an ihrem Leib herummurksen ließ.
Aber heute genügte auch er nicht, um weiterzumachen. Sie hätte umkommen sollen, zusammen mit ihren Eltern. Dieses Leben war ein Aufschub. Die Monate der Rehabilitation, die Operationen, die Routine, der Anschein von Normalität, es war nichts mehr als Wassertreten. Es wurde Zeit, dass sie der Wahrheit ins Auge blickte.
Ihre Finger glitten über das Kontrollpanel auf der rechten Seite ihres Betts, und die Vorhänge schoben sich zur Seite. Die bleichen Gebeine des gigantischen Walskeletts, das die Hälfte des Zimmers füllte, schimmerten im Sonnenlicht. Wurde es nicht Zeit, dass sie es irgendeinem Museum schenkte? Es war eine Laune gewesen, und wie alle Launen hatte es seine Magie verloren, nachdem ihr stattgegeben worden war. Es stand im Weg und es irritierte Anika. Sie fuhr das Bett dorthin, bis sie wie ein fauler Jona im Bauch des Walfischs lag. Könnte er sie nur bis in die eiskalten Polarmeere mitnehmen, wo seltsame, fluoreszierende Wesen zur Seite hin wegschossen, während er bis zum Boden tauchte!
Es war ein Trost zu wissen, dass irgendwo auf der Welt derartige magische Wesen existierten, auch wenn sie sie nie mit eigenen Augen würde sehen können.
Nein, sie würde das Skelett noch eine Weile stehen lassen.
Sie fuhr weiter bis zu den Fenstern und blickte über die Stadt. Wenn man Großvater glauben konnte, dann war das da draußen ein Dschungel.
Sie sah kein Grün. Es war ein Wald aus Wolkenkratzern mit Hubschraubern wie exotischen Libellen und ganz unten im Schatten der Gebäude einem unablässigen Strom von Ameisen in sämtlichen Farben.
Babel war der Waldriese. Die anderen Bauten zitterten in seinem Schatten.