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dem Ärmel über die verschwitzte Stirn wischte.

      »Wir mussten die Arterie drei Mal wieder aufmachen«, seufzte er. »Ein Mal mussten wir Frau Ziegler reanimieren.«

      »Aber sie kommt durch, oder?« Jennys Stimme zitterte.

      Es kam selten vor, dass die Klinikchefin ihre Emotionen in ihrem beruflichen Umfeld zeigte.

      Daniel wusste das. Es war ein Zeichen dafür, welch wichtige Rolle die bisher unbekannte Cousine im Leben seiner langjährigen Freundin spielen musste. Trotzdem konnte er keine Entwarnung geben.

      »Ich weiß es nicht«, gestand er offen. »Ihr Kreislauf ist ziemlich instabil, und wer weiß, ob er nicht wieder zusammenbricht.« Von hinten trat Schwester Elena an ihn heran und reichte ihm wortlos eine Flasche Mineralwasser. Dankend nahm Daniel die Erfrischung an. Sie zischte, als er den Deckel aufdrehte. »Mein Gott, was für eine Schlacht!«, seufzte er erschöpft und hob die Flasche an die Lippen.

      Mitfühlend legte Jenny die Hand auf seine Schulter. »Ich weiß gar nicht, wie ich dir für deine Mühe danken soll«, rang sie sich ein paar Worte ab. »Wenn du nichts dagegen hast, gehe ich jetzt zu Nicole. Ich muss sie unbedingt sehen.«

      Daniel Norden hatte nichts da­gegen, und so betrat die Klinikchefin wenig später die Intensivstation. Sie fand Nicole im hintersten Zimmer, das sie mit einem weiteren Patie­nten teilte. Das unaufhörliche Schnaufen, Piepen und Stampfen der lebenserhaltenden Maschinen war beängstigend und beruhigend zugleich. Leise ließ sich Jenny von einem Intensivpfleger über den Stand der Dinge informieren. Dann zog sie sich einen Stuhl ans Bett – dorthin, wo sie die Pflegearbeiten nicht behinderte – und betrachtete Nicoles Gesicht, das auch nach all den Jahren nichts von seiner Vertrautheit verloren hatte.

      *

      »Hier steckst du!« Es war Romans weiche Stimme, die die Klinikchefin aus ihrer Versunkenheit weckte. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn aus großen Augen an. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt heimfahre. Wir sehen uns morgen.« Er wollte sich über Jenny beugen und ihr einen Abschiedskuss auf die Stirn hauchen, als sie eine unerwartete Bitte aussprach.

      »Bitte bleib noch ein bisschen bei mir.«

      Im ersten Moment reagierte Roman nicht. Dann sah er sich nach einer Sitzgelegenheit um und entdeckte einen Hocker, den er neben Jennys Stuhl zog.

      »Warum hast du mir nie erzählt, dass du eine Cousine hast?«, fragte er, doch Jenny hob abwehrend die Hand und schüttelte den Kopf.

      Zuerst musste sie etwas anderes loswerden.

      »Ich … ich wollte dir sagen, dass ich diesen Abend mit dir …« Sie hielt inne, als fielen ihr diese Worte unendlich schwer. »Ich habe diesen Abend mit dir sehr genossen und wäre sehr gern mit dir in diesem Hotel geblieben.«

      Ein Lächeln huschte über Romans Gesicht. Aus Erfahrung wusste er, dass sie ihr Herz nicht gerade auf der Zunge trug, und schätzte ihre Worte daher umso mehr.

      »Ich auch«, erwiderte er erfreut.

      Doch Jennys Gedanken waren längst weiter geeilt, und ihr Blick hing wieder an Nicoles blassem Gesicht.

      »Diese Frau hier … meine Cousine … Du willst wissen, warum ich dir nie von ihr erzählt habe?«

      Roman schluckte. Etwas in Jennys Stimme besorgte ihn.

      »Nur, wenn du darüber sprechen willst«, wollte er ihr die Chance geben, es sich noch einmal zu überlegen.

      Doch Jenny hatte nicht länger die Kraft zu schweigen.

      »Nicole und ich … wir haben seit fast 25 Jahren kein Wort mehr miteinander geredet. Gestern wäre die Gelegenheit dazu gewesen, und ich hab es wieder mal verpatzt.«

      Als Roman Kürschner seine Lebensgefährtin so traurig sah, wurde sein Herz schwer. Er ahnte, welche unendlichen Qualen sie litt, und wusste doch, dass er ihr nicht helfen konnte.

      »Ach Jen …«, murmelte er und legte den Arm um ihre Schultern.

      Ihr Blick hing unverwandt an Nicoles Gesicht.

      »Was soll ich tun, wenn sie stirbt?«, fragte sie.

      Als Roman keine Antwort gab, ließ sie den Kopf auf seine Schulter sinken. Selten zuvor in ihrem Leben war sie so erschöpft gewesen. Und doch wusste Jenny, dass sie auch in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde.

      *

      Nicht nur Jenny und Roman schliefen nicht. Auch Marianne und Mario fielen erst in den frühen Morgenstunden in einen kurzen Schlaf, aus dem der Wecker sie viel zu früh wieder aufschreckte.

      »Ich fühle mich wie durch den Fleischwolf gedreht!«, stöhnte Marianne und zog die Bettdecke über den Kopf.

      Im Gegensatz zu ihr war Mario schon wieder hellwach. Er beugte sich über sie, zog die Decke wieder weg und betrachtete sie kritisch aus halb geöffneten Augen.

      »Dafür siehst du aber noch ganz passabel aus«, fällte er schließlich grinsend ein Urteil und küsste ihre schlafwarme, weiche Wange.

      »Danke für die Blumen«, konnte sich auch Marianne ein Lächeln nicht verkneifen und schlang die Arme um Marios Nacken. »Du weißt schon, was für ein Opfer ich für dich bringe. Normalerweise kann ich samstags wenigstens ein bisschen länger schlafen. Und Tobias muss ich auch nicht wecken.«

      »Noch länger? Aber es ist doch schon zehn nach sechs«, klärte Mario Cornelius die Konditorin übermütig auf. Die leidenschaftliche Liebesnacht war nicht ohne Wirkung auf seine Stimmung geblieben, und er strahlte von einem Ohr zum anderen. »Aber falls es dich tröstet: ich hab noch eine gute halbe Stunde Zeit, um deine körperliche, geistige und seelische Verfassung zu überprüfen«, scherzte er und schob seine Hand unter ihre Bettdecke.

      Marianne ließ sich diese Aufforderung nur zu gern gefallen und überließ sich erneut seinen Zärtlichkeiten.

      »Und? Wie sieht es aus? Kannst du mich in dieser Verfassung bedenkenlos zur Arbeit schicken?«, fragte sie verliebt, als sie sich endlich aus der innigen Umarmung lösten.

      Eine dunkle Strähne klebte an Mariannes verschwitzter Wange, und Mario hob die Hand, um sie zärtlich fort zu schieben.

      »Eigentlich kann ich dich unter gar keinen Umständen auf die Menschheit loslassen. Aber ich fürchte, ich kann es nicht verhindern, weil ich selbst bald in der Klinik sein muss.«

      »Und wenn ich meinen Plan recht im Kopf habe, warten mindestens sechs Bestellungen …«

      »Pssst!« Mario legte den Zeigefinger auf Mariannes volle Lippen und hinderte sie so am Weitersprechen. »Noch sind wir hier, weit weg von Alltag und Pflichten«, erinnerte er sie weich. »Und ich wünschte mir, es könnte immer so bleiben. Wo wir gerade beim Thema sind … Was hast du heute Abend vor? Ich zähle schon jetzt die Stunden bis zum Wiedersehen.«

      Er wollte sie wieder in seine Arme schließen, als Marianne unvermittelt ein Stück von ihm wegrückte. Ihr kritischer Blick ruhte auf seinem verwunderten Gesicht.

      »Ich bin mit einer Freundin verabredet. Mal abgesehen davon, dass mir das alles ehrlich gesagt ein bisschen zu schnell geht«, entgegnete sie schroffer als beabsichtigt.

      Mario Cornelius hatte das Gefühl, in Eiswasser getaucht zu werden.

      »Wie meinst du das? Willst du mich denn nicht sehen?«, fragte er und machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung. »Ich dachte, du freust dich, wenn wir am Wochenende so viel wie möglich zusammen sein können.«

      Wie Mario so neben ihr lag, den Kopf in die Hand gestützt, und sie betroffen musterte, tat Marianne ihre Reaktion schon wieder leid. Sie wusste selbst nicht so genau, warum sie sich plötzlich eingeengt fühlte. Mario schien genau der Mann zu sein, nach dem sie sich so lange gesehnt hatte. In seiner Gesellschaft fühlte sie sich wohl wie lange nicht, geliebt, verstanden und geborgen. Und trotzdem schrillten sämtliche inneren Alarmglocken, als er den Wunsch äußerte, sie in ein paar Stunden schon wiederzusehen.

      »Es ist einfach so, dass ich noch ein

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