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kühner und kühner wurden. Er teilte alle unsere Ansichten und half, den schönen Stoff weiterzuspinnen, den wir vor seinen Augen ausgebreitet hatten. Als ich Gedichte von Heine und Lessing vortrug, füllten sich seine Augen mit Tränen, und als mein Sohn Stücke aus Hubays Oper »Der Geigenmacher von Cremona« spielte, kannten sein Lob und sein Enthusiasmus keine Grenzen mehr. Über die Maßen dankbar für den wundervollen Abend, den er in einem »Schrein der Kultur in Osteuropa« verbracht hatte, wie er sich ausdrückte, schüttelte er mir warm die Hand, bewunderte meine ausgefallene Armbanduhr und ging, nachdem er nochmals bekräftigt hatte, dass der Tag der Freiheit nah sei. »Behaltet euren Mut«, waren seine letzten Worte an uns.

      Fünf Monate später sollte ich ihn wiedersehen, im zweiten Monat meines Aufenthalts in Auschwitz, in der Uniform eines SS-Hauptsturmführers. Er war der Leiter der Lagerapotheke.

      »Jüdische Ärzte vortreten!«, befahl Dr. Mengele, der leitende Lagerarzt. »Wir bauen eine Krankenstation auf.«

      Mit einigen anderen trat ich vor und sah mich Dr. Capesius, der neben dem Lagerarzt stand, von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ich hatte mich gerade von einem misslungenen Selbstmordversuch erholt. Mein Kopf war rasiert, und die schmutzigen Lumpen, die meinen Körper verhüllten, verbargen meinen bemitleidenswert geschwächten Zustand nicht. Einen Moment lang traute ich meinen Augen kaum. Blitzartig sah ich mein Zuhause, meinen Sohn, die Geige unter dem Kinn, meinen Mann und unseren Gast, die ihm mit gespannter Aufmerksamkeit lauschten. Die Szene drehte sich vor meinen Augen, während sein Gesicht freudlos lächelte, dann wurde alles dunkel. Als ich zu mir kam, lag ich auf dem Fußboden meines Blocks und wurde angewiesen, mich sofort bei Dr. Capesius zu melden.

      Er betrachtete mich von Kopf bis Fuß – und lächelte wieder. Als er zu sprechen begann, klang seine Stimme kalt und höhnisch. Meine Abscheu war so groß, dass ich seine Worte zunächst kaum verstehen konnte. Seine Stimme drang jedoch bald bis zu meinem Bewusstsein durch. »Sie werden die Lager-Gynäkologin sein …«, bellte er. »Um Instrumente brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen … Sie werden keine haben. Ihre medizinische Ausrüstung gehört jetzt mir, auch die ausgefallene Armbanduhr, die ich so bewundert habe … Ich habe auch Ihre Papiere, die werden Sie aber nicht brauchen … Sie können gehen.« Ich sah ihn nie wieder.

      Doch all dies geschah viel später. Im Januar und Februar 1944 waren wir noch zu Hause, frierend, unterernährt, überarbeitet, doch voller Hoffnung. Es lag eine fast unerträgliche Spannung in der Luft. Die kleine Stadt hielt ihren Atem an, wartete auf den Durchbruch in den Karpaten, der uns vor dem ansonsten unvermeidlichen braunen Tod bewahren würde.

      Als der Durchbruch erfolgte, war es zu spät. Am 19. März 1944, einem sonnigen Frühlingssonntag, wurde Ungarn von den Deutschen überrannt. Unser Schicksal war besiegelt. Ununterbrochen, so als wollten sie ihr ganzes bestialisches Programm in die kürzeste Zeitspanne pressen, bombardierten sie uns mit einem Befehl nach dem anderen. Zuerst mussten wir den gelben Davidstern aufnähen … dann folgte die Ausgangssperre … Reisen war verboten … Häuser wurden durchsucht … Menschen interniert … Läden, Geschäfte beschlagnahmt … eine endlose Folge überfallartiger Schrecken. Dann der Befehl, wir dürften unsere Häuser drei Tage lang nicht verlassen. Wir kauerten in unseren Wohnungen, krank vor Angst, warteten auf den nächsten Schlag. Den offiziellen Raubüberfall. Die Polizei brach in ein Haus nach dem anderen ein, forderte Gold, Silber, Juwelen, Wertsachen, Geld. Sie öffnete Schränke, Schubladen, Spinde und nahm alles mit, was sie wollte, ohne Rücksicht auf unsere Gegenwart, als wären wir schon tot.

      Nachdem wir unseres ganzen Besitzes beraubt waren, wurden wir ins Ghetto getrieben, auf dem Rücken kleine Bündel mit dem Allernötigsten. Am Ende der Stadt gab es ein paar enge, schmutzige, schlammbedeckte Straßen, gesäumt von heruntergekommenen Schuppen. Acht bis zehn Menschen mussten sich einen Raum teilen. Das Leben war auf das niedrigste Niveau reduziert. Und trotzdem waren wir noch zu Hause. Noch konnten wir die Sonne über unseren Bergen untergehen sehen und in unseren Herzen hoffen, dass unsere Befreier bald über die Berghänge zu uns hinabkämen. Um uns waren Freunde und Verwandte, und ihre Liebe verscheuchte die Angst, die unsere Seelen erfüllte.

      Das Ghetto diente nur einem einzigen Zweck. Es machte es unseren Peinigern leichter, uns den letzten mageren Besitz zu rauben. Sie kamen morgens und abends, ließen uns keine Ruhe, durchsuchten unsere Räume, unsere Kleider. Nichts und niemand war vor ihrer unermüdlichen Suche gefeit. Ich erinnere mich, es war ein Samstag, als wir erfuhren, dass wir abermals nach versteckten Schmuckstücken durchsucht würden. Diesmal war es die Gestapo, nicht die örtliche Polizei, die die Operation durchführte. Als sie alles durchwühlt hatten, ohne irgendwelche Wertsachen zu finden, musste ich dabeistehen und zusehen, wie sie eine Frau nach der anderen packten und mit schmutzigen Fingern die Tiefen ihrer Körper nach Schätzen absuchten.

      Eines Tages befahl mir der Befehlshaber der Gestapo, im Ghetto ein Hospital und eine Entbindungsstation einzurichten. Von Glück beflügelt, lief ich von Haus zu Haus, bat um ein überschüssiges Bett, ein Laken, ein Handtuch, etwas Baumwolle, Wolle, ein Kissen, was immer man auch nur entbehren konnte, und innerhalb weniger Tage war eine kleine Wohnung in ein sauberes, weißes, fast komfortables kleines Hospital verwandelt worden. Damals begegnete ich zum ersten Mal der deutschen Perversität. Das Einrichten des Hospitals gab uns ein Gefühl der Sicherheit. »Warum sollten sie uns beauftragen, ein Hospital zu organisieren«, sagten wir uns, »wenn sie vorhaben, uns zu deportieren? Vielleicht werden wir doch nicht deportiert … Vielleicht behalten sie uns hier, im Ghetto, bis der Krieg vorbei ist. Vielleicht brauchen sie ihre Züge für den Rücktransport ihrer Armeen, und die russische Gegenoffensive kann uns das Leben retten.«

      Nachdem ich meine erste Entbindung auf der neuen Entbindungsstation hinter mich gebracht hatte – eine komplizierte Zangengeburt – erschien der Gestapokommandant mit einigen Windeln als Geschenk für das Neugeborene. Er beglückwünschte mich zu meinem Geschick, bewunderte die Arbeit, die ich beim Aufbau des Hospitals geleistet hatte und zeigte ein entgegenkommendes Interesse für alles, was ich ihm erzählte. Am nächsten Tag traf aus Berlin der Befehl zur Deportation ein, und der Gestapokommandant kam selbst, um die junge Mutter und ihr einen Tag altes Kind in den Viehwaggon zu werfen.

      Als wir von dem Deportationsbefehl erfuhren, ging mein Mann, der als Vorsitzender des Judenrats im Ghetto verantwortlich für die Ausführung aller Befehle war, zu ihm und bat ihn um den Gefallen, das gesamte Ghetto auf der Stelle zu exekutieren. Er selbst und seine Familie würden als erste in den Tod gehen, sagte er ihm. Als Antwort erhielt er ein unbändiges Lachen und so heftige Prügel, dass er die Treppen des Hauptquartiers hinabstürzte. Er war bewusstlos, als wir ihn abholten und in unseren Raum zurücktrugen. Im Morgengrauen des folgenden Tages mussten wir nach zwei elenden Wochen das Ghetto verlassen. Zunächst wurden wir in die Synagoge geschickt und dort erneut durchsucht. Man nahm uns unsere Bündel ab. Unsere paar Papiere und Fotografien wurden vernichtet. Wie Vieh trieb man uns dann zum Bahnhof und pferchte uns in Viehwaggons, achtzig bis hundert Menschen zusammengedrängt in jedem Waggon. Vergebens baten unsere Blicke die Berge, die Stadt, die Menschen um Hilfe. Nur der Tod sollte uns von unserem Leid befreien.

      2 Victor Capesius (1907–1985), Pharmazeut, seit 1934 rumänischer Handelsvertreter der I.G. Farben, 1943 als Volksdeutscher zur Wehrmacht eingezogen, der Waffen-SS unterstellt und von September 1943 bis Februar 1944 Leiter der Lagerapotheke in Dachau, danach in Auschwitz. Dort für die Beschaffung von Zyklon B zuständig, enge Zusammenarbeit mit Josef Mengele, während der Ungarn-Aktion im Frühsommer 1944 auch zum Rampendienst eingeteilt, 1946/47 in US-Internierung, danach Apotheker in Göppingen, 1965 im 1. Frankfurter Auschwitzprozess wegen der Beteiligung an Kriegsverbrechen zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt.

      »Ich will mit ihnen gehen …«

      Heute – wo alles so hilflos erscheint in unserer chaotischen Welt, wo nach all dem Blutvergießen, all dem Leid der letzten Jahre Frieden und Sicherheit überall noch immer unbekannte Segnungen sind – stellen sich Menschen wie ich, die durch die Hölle gegangen sind, oft die Frage: Wo soll das enden? Werden Güte, Liebe und Gerechtigkeit niemals wieder auf dieser Welt regieren? Werden der Hass und das Böse immer das Zepter schwingen?

      Meine

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