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Literaturwissenschaftlerin Constanze Jaiser hat darauf aufmerksam gemacht, wie problematisch die Darstellung von Irma Grese in dieser Prozessberichterstattung war.39 Hier entstand ein Klischee von Grese als »beautiful beast«, das einen engen Zusammenhang zwischen einer unterstellten sexuellen Perversion und der von ihr entwickelten sadistischen Gewalttätigkeit suggeriert. Dies führte dazu, dass gewalttätiges Verhalten von NS-Täterinnen lange Zeit nur noch mit einer triebhaften Sexualität erklärt wurde und eine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Verbrechen und den Strukturen, in denen sie möglich wurden, in den Hintergrund trat. Perl (und auch Lengyel) folgen dieser Legendenbildung, die bestimmte Funktionen im Nachkriegsdiskurs bediente, da sie eine scheinbare Erklärung für die unerklärlich erscheinende und nicht ins Rollenklischee passende Brutalität einer Frau lieferte. Auch Perl und Lengyel sexualisieren die Gewalttätigkeit Greses und verschenken damit die Chance auf eine tiefergehende Beschäftigung mit der Frage, welche sozialen und strukturellen Verhältnisse dazu beitrugen, dass Grese diese Aggressivität entwickelte.

      Aus dem Diskurs der damaligen Zeit stammt auch Perls starke Betonung der Schönheit und Begabung der Opfer als Beweis für den großen Verlust, bei gleichzeitiger Emotionslosigkeit bis hin zu spürbarem Sarkasmus, wenn sie das Schicksal von »hässlichen« und »streitsüchtigen« Menschen wie Jeanette oder den kleinwüchsigen Opfern von Mengeles Experimenten beschreibt. Diese Wertungen werden bei heutiger Lektüre als irritierend empfunden. Ebenfalls befremdlich wirkt die hin und wieder auftauchende Überschätzung ihres Einflusses auf das Lagergeschehen, die möglicherweise Teil ihrer Coping-Strategie in Birkenau war. So sei beispielsweise allein dank ihrer Idee, Margarine als Mittel gegen Hautentzündungen einzusetzen, Margarine zum teuersten Artikel in ganz Auschwitz geworden, und immer wieder habe sie bildlich vor Augen gehabt, wie es sein würde, wenn sie ihre Leidensgenossinnen singend in die Freiheit führen würde – ein Erlebnis, das ihr durch die vorzeitige Überstellung nach Hamburg-Wandsbek genommen wurde. Der Eindruck wird bestätigt durch die Beschreibungen von Olga Lengyel, die über die in ihrem Buch unschwer als Gisella Perl zu erkennende »Dr. G.« in freundschaftlichem Spott schreibt, sie hätte sich in einem »geradezu ungesunden Ausmaß« geweigert, sich mit dem Umstand abzufinden, dass sie nicht mehr ihr altes Leben führte. Sie hätte in einer Traumwelt gelebt und alles getan, um die Illusion eines gepflegten Luxus’ aufrecht zu erhalten, sogar Brot dafür gegeben, um sich und den anderen Reviermitarbeiterinnen das Haar richten zu lassen und stets mehrere »Garderoben« parat gehabt. Aus dem wenigen, was wir über Gisella Perl wissen: Hier wird deutlich, dass es sich um einen starken Charakter handelt. Schon als junges Mädchen hatte sie sich gegen viele Schwierigkeiten und Bedenken durchgesetzt und war Ärztin geworden. Mit ähnlicher Beharrlichkeit schaffte sie es, die grausame Realität in Birkenau für sich und auch für andere zum Positiven zu beeinflussen. Eine der stärksten Szenen im Buch ist daher auch die Beschreibung des Abends, an dem sie beschließt, gegen die in den ersten Wochen alles beherrschende Apathie anzukämpfen und Menschlichkeit in die kleine Gemeinschaft einziehen zu lassen, die sich eine Pritschenkoje zu teilen hatte: »Anstatt wie gewohnt wortlos einzuschlafen, sprach ich leise mit den Frauen, die in meiner Nähe lagen. Ich erzählte ihnen von meinem alten Leben in Máramarossziget, von meiner Arbeit, meinem Mann, meinem Sohn, den Dingen, die wir für gewöhnlich taten, den Büchern, die wir lasen, der Musik, die wir hörten … Zu meiner Überraschung lauschten sie mit andächtiger Aufmerksamkeit, was zeigte, dass auch ihre Seele, ihr Geist nach Austausch hungerte, nach Gemeinschaft, nach Ausdruck ihrer selbst. Eine nach der anderen öffneten sie nun ihre Herzen.«

      Nach der Befreiung

      Wenige Wochen vor der Räumung von Auschwitz-Birkenau wurde Gisella Perl in das Außenlager Hamburg-Wandsbek überstellt, wo sie zwei Monate lang im Krankenrevier arbeitete. Anfang März 1945 wurde sie von dort nach Bergen-Belsen gebracht und erlebte die apokalyptischen Zustände kurz vor der Befreiung des Lagers am 15. April 1945 durch die britischen Truppen. Im Anschluss arbeitete sie mehrere Monate im Nothospital von Bergen-Belsen. Nachdem sie in Erfahrung gebracht hatte, dass ihr Mann und ihr Sohn nicht überlebt hatten, unternahm sie einen Suizidversuch und wurde daraufhin durch den französischen Gesandten des Vatikans, Charles Amarin Brand, der als Seelsorger in Bergen-Belsen tätig war, in ein Kloster nach Frankreich vermittelt, wo sie sich erholen konnte. Ihren Bericht schrieb sie in der ersten Jahreshälfte 1946. Im März 1947 lud sie die United Jewish Appeal, eine Hilfsorganisation, die überlebende Juden unterstützte, mit einem Stipendium und einem zeitlich begrenzten Visum in die USA ein, um dort Vorträge über Auschwitz zu halten, insbesondere vor Medizinern. »Ich fuhr von Stadt zu Stadt, als Botschafterin der sechs Millionen«, erklärte sie später.40 Laut ihren eigenen Angaben war es Eleanor Roosevelt, die sie ermutigte, wieder als Ärztin zu praktizieren. Ihre Versuche, einen dauerhaften Aufenthalt in den USA zu erhalten, erwiesen sich als schwierig. Zwar hatte Präsident Harry S. Truman im Dezember 1945 die »Truman Directive« erlassen, die es »Displaced Persons« aus Europa ermöglichen sollte, unabhängig von den strengen Einwanderungsquoten eine Aufenthaltserlaubnis für die USA zu erhalten. Sie erwies sich jedoch als wenig wirksam, und erst der Displaced Persons Act vom 25. Juni 1948 und seine Nachbesserung 1950 sorgten dafür, dass sich die Zuzugsmöglichkeiten für Holocaust-Überlebende besserten. Gisela Perls Bemühen um die US-Staatsbürgerschaft lag vor dieser Zeit.

      Der Immigration and Naturalization Service der USA hatte die Aufgabe, zu überprüfen, dass Einwanderungswillige keine Nazisympathisanten oder Kollaborateure waren. In dem an Gisella Perls Geschichte angelegten Film Out of the Ashes (Regie: Joseph Sargent, 2003) wird suggeriert, die Behörde sei von Auschwitz-Überlebenden informiert worden, dass Gisella Perl Tausende von jüdischen Babys getötet habe. Im Film muss sie in mehreren Vernehmungen den als ignorant dargestellten Männern der Behörde die Situation in Birkenau erklären und rechtfertigen, wieso sie dort Abtreibungen vorgenommen hat. Es wird die Aufgabe künftiger Forschung sein, anhand der Vernehmungsprotokolle festzustellen, wer genau welche Vorwürfe erhob, und einzuordnen, inwieweit sich Perls Fall von anderen unterschied. Aus der zeitgenössischen Presse erfahren wir lediglich, dass sich der New Yorker Abgeordnete der Demokraten im US-Repräsentantenhaus, Sol Bloom, sehr dafür einsetzte, Perl einen ständigen Aufenthalt in den USA zu ermöglichen. Nach einem Jahr ermüdenden Kampfes bewilligte Präsident Truman schließlich im März 1948 ihre Einbürgerung in die USA. Die New York Times berichtete, dass Perl ansonsten eine Zwangsrückkehr nach Rumänien und dort möglicherweise eine Verfolgung gedroht hätte.41 Welche Beschuldigungen gegen sie erhoben wurden, blieb unerwähnt. Dass es um die Abtreibungen in Auschwitz-Birkenau ging, geht lediglich aus einer kleinen Debatte in den Feuilletons amerikanischer Zeitschriften im September 1948 hervor. So veröffentlichte der Partisan Review, eine kommunistisch orientierte Vierteljahresschrift zu Politik und Literatur, einen Artikel des deutsch-jüdischen Philosophen Hans Meyerhoff, der nach 1933 in die USA ausgewandert war. Er bezieht darin die Position, dass Perl aus einfacher Humanität gehandelt habe und ihre nächtlichen Abtreibungen ein Akt von Zivilcourage waren, die in dieser Situation lebensrettend und daher richtig waren.42 Im Time Magazine wurde unter der Überschrift »Not so simple« widersprochen. Der New Yorker Arzt Dr. David Deutschman wird dort mit den Worten zitiert: »Es kann keine rationale oder moralische Rechtfertigung für die Massenabschlachtung von Kindern geben – egal ob sie von brutalen Nazis oder von einer sentimentalen und gutmeinenden Medizinerin vorgenommen wird.«43

      Im Jahr 1948 erschien ihr Buch in New York. Sie begann auf der Entbindungsstation des Mount Sinai Hospitals zu arbeiten und eröffnete 1951 eine Praxis in der Park Avenue in Manhattan. Als Geburtshelferin, Spezialistin für Familienplanung und die Behandlung von Unfruchtbarkeit brachte sie Tausende von Kindern auf den Weg ins Leben. Im Rentenalter ging sie nach Israel, um bei ihrer Tochter zu leben und arbeitete ehrenamtlich in der Frauenabteilung des Shaare Zedek Medical Center in Jerusalem.44 Sie starb 1988.

      Bedeutung der Memoiren von Gisella Perl

      Die Versuche, Gisella Perls Bericht in verkitschter Überhöhung ihrer Person zu rezipieren, wie es in einigen Essays getan wurde, wo vom »Engel von Auschwitz« und »der Leiterin des Häftlingskrankenbaus in Auschwitz« die Rede ist, sind wenig zielführend. Sie versuchen, Aufmerksamkeit zu erheischen, aber verfehlen durch ihre Schwarz-Weiß-Zeichnung oftmals den Kern des Geschehens. Wie

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