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die Apotheose der Opfer.45 In Auschwitz-Birkenau gab es unzählige Menschen, die vor Entscheidungen gestellt waren, die niemals einem Menschen zugemutet werden dürfen, und diese dennoch so verantwortungsvoll wie möglich trafen. Gisella Perl war kein »Engel«, sondern ein Mensch mit menschlichen moralischen Ansprüchen, die sie wie ihre Mithäftlinge in einem unmenschlichen System auf den Prüfstand gestellt sah. Sie lässt uns an ihren Gedanken, ihrer Wut und ihren Fragen teilhaben und gibt mit ihrem Bericht nicht nur der historischen Forschung wichtige Einblicke in das Innenleben des Lagers. Wir sollten die Berichte der Überlebenden in ihrer menschlichen Größe wahrnehmen und ihre natürliche Begrenztheit anerkennen.

      Seit Jahrzehnten wird darüber nachgedacht, wie die Bildungsarbeit zu den Themen der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -ermordung angesichts des Aussterbens der Generation der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen in zukunftsfähige Formate übertragen werden kann. Neben den zahlreichen Anstrengungen, moderne Kommunikationstechnologien wie Hologrammformate und Videointerviews nutzbar zu machen, kann auch die Relektüre der in Vergessenheit geratenen frühen Berichte einen großen Lerneffekt freisetzen, da ihnen gerade durch ihre Unmittelbarkeit ein hohes Potenzial innewohnt. Die Zugänglichmachung und Übersetzung, Kontextualisierung und Bereitstellung von Hintergrundwissen auf Grundlage der geschichtswissenschaftlichen Forschungsergebnisse sind gute Möglichkeiten, den unverzichtbaren Stimmen der Überlebenden Geltung zu verschaffen, neue Fragen an ihre Berichte zu stellen, Leerstellen zu diskutieren und sie im Dialog und vielstimmigen Akkord mit anderen Texten zu erhellen. In solchen Fällen können uns die frühen, ebenso wie die später entstandenen Berichte noch sehr viel Neues und Unbekanntes vermitteln.

      Andrea Rudorff

      Vorwort

      Ja, Heine hatte Recht. Das alte, sadistische Deutsche erstand aus seinem Grab, zog eine SS-Uniform an, erhob sein infernalisches Hakenkreuz zum Hohn auf das Christuskreuz und fuhr fort zu zerstören, zu verbrennen, zu plündern, zu foltern und zu morden. Hitler, dieser degenerierte Faust, und seine Handlanger verwandelten das deutsche Volk in ein williges Instrument zu Eroberung und Gemetzel.

      Wir werden niemals verstehen können, wie ein Volk, das Kant, Goethe, Beethoven, Bach, Dürer und viele andere unvergleichliche Genies hervorgebracht hat, so tief in den Morast aus Verdorbenheit, Verbrechen und der Lust an Folter sinken konnte, dass jedes menschliche Wesen, das dies mit ansah, sich schämte, derselben Spezies anzugehören.

      Mein Buch ist ein Zeugnis, das an die Ereignisse der Jahre 1940 bis 1945 erinnern soll, an die Bestialität, den Sadismus, die Unmenschlichkeit der Nazis und an den Tod ihrer sechs Millionen schuldlosen jüdischen Opfer. Jede individuelle Geschichte, jedes Bild, jede Beschreibung ist nur ein Stein in diesem Monument, das die Welt für immer an diese schmachvolle Phase der Geschichte erinnert und sie zur Wachsamkeit aufruft, damit sich die Ereignisse dieser Jahre nicht wiederholen.

      »L’Allemagne Éternelle«, das sich der skrupellosen Grausamkeit seines Volkes rühmte, zeigt sein wahres Gesicht auf den Seiten dieses Buches. Ihr, die ihr unter dem Schutz der Freiheitsstatue gelebt habt, haltet vor diesem Denkmal inne und lest seine Inschriften. Lest sie, prägt sie in eure Seelen ein und tragt sie als Memento mit euch! Die Toten sprechen hier zu euch. Die Toten, die euch nicht um Rache für sie bitten, sondern nur darum, sie zu erinnern und darüber zu wachen, dass keine weiteren unschuldigen Opfer deutscher Unmenschlichkeit je wieder ihre Reihen füllen …

      G.P., Juli 1946

      1 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Drittes Buch, hier zitiert nach: Heinrich Heine, Werke und Briefe in zehn Bänden, Band 5, Berlin und Weimar 1972, S. 305.

      Dr. Capesius2

      Dezember 1943, Máramarossziget, Siebenbürgen.

      Nach Jahren der Angst, des Leids und des unaufhörlichen Kampfes gegen Hoffnungslosigkeit und Resignation waren die Jäger schließlich zu Gejagten geworden. In beständig zunehmendem Ausmaß strömten die nationalsozialistischen »Eroberer« durch unsere Stadt, frierend, hungrig und bestürzt, nach Westen zurückgedrängt durch die unaufhaltsame Wucht der russischen Gegenoffensive. Als wir ihre ausgezehrten Körper erblickten, ihre erfrorenen Hände und in Stofflappen gehüllten Füße, regte sich in unseren Herzen nicht mehr Mitleid als im Herzen des Máramaros-Gebirges mit seinen schneebedeckten Gipfeln, unberührt von den wechselnden Gezeiten der Geschichte. Jeder jüdischen Mutter, Ehefrau und Schwester galt der deutsche Soldat als Symbol allen Übels. Wir hassten ihn mit einem wilden, unauslöschlichen Hass. Er war verantwortlich für das Schicksal unserer Männer, die, eingezogen in Sklavenarbeitsbataillone, in den russischen Winter gehetzt worden waren, um halbverhungert, in Lumpen gekleidet und unbewaffnet Landminen zu entschärfen und den deutschen Armeen den Weg zu ebnen. Wer nicht von explodierenden Minen getötet wurde, erfror, verhungerte oder starb an den brutalen Schlägen, als Lohn für seine Dienstbarkeit. Mit den Armeen auf dem Rückzug kamen jetzt jedoch auch einige der Überlebenden zurück, kaum wiederzuerkennen, mit langen Bärten und durch das Leid gealterten Gesichtern. Doch sie lebten und – zumindest dachten wir das – waren in Sicherheit.

      Ich arbeitete damals für drei und ersetzte mehrere Gynäkologen, die mit den Arbeitsbataillonen fortgeschickt worden waren. Ich half jungen Müttern, ihre Kinder auf die Welt zu bringen, linderte ihre Schmerzen, indem ich ihnen lange, optimistische Geschichten von einer friedvollen, sicheren Zukunft erzählte, wo es keine Nazis mehr geben würde, die ihr Leben und das ihrer Kinder bedrohten. Ich war unermüdlich und voller Hoffnung, belebt durch den Wind der Befreiung aus dem Osten und dem Westen.

      Eines Nachmittags erschien ein ruhiger, kultivierter Herr in meiner Praxis.

      »Ich bin Dr. Capesius«, stellte er sich vor, »medizinischer Handelsvertreter der I.G. Farben. Ich bringe Ihnen hier einige unserer neuesten Präparate, aber das ist – offen gestanden – nur ein Vorwand. Ich interessiere mich nicht für die heutige I. G. Farben. Sie sind ein grundlegender Bestandteil des Nazisystems, und obwohl ich sie immer noch vertrete, ist es mir egal, ob ich ihre Produkte verkaufe oder nicht. Ich bin hier, da ich weiß, dass Sie und Ihr Mann während der Weimarer Republik lange in Berlin gewesen sind. Ich möchte über Deutschland sprechen, wie es zu jener Zeit war und wie es wieder sein wird, wenn der Nationalsozialismus besiegt ist. Ich bitte Sie, mir zu vertrauen … Glauben Sie mir, es gibt viele Menschen in Deutschland, die wie ich nur für den Tag der Befreiung leben …«

      Vertrauen konnte ich ihm nicht. Zumindest nicht sofort. Aber indem ich mich zur Raison rief, eine Nation nicht wegen der Verbrechen einiger ihrer Söhne zu verurteilen, auch wenn es sich um die Mehrzahl handeln sollte, lud ich ihn zu uns nach Hause ein, damit er meinen Mann und meinen Sohn kennenlernte.

      Der lange Abend, den wir zusammen verbrachten, hebt sich in meiner Erinnerung wie ein farbenfrohes Bild vor einem schwarzen Hintergrund ab. Wir wohnten in einem schönen Haus, das Kornélia Prielle, der großen ungarischen Bühnenkünstlerin französischer Herkunft, gehört hatte. In den Wänden meines grünen Salons, behütet durch die Liebe und Achtung meines Mannes und meines Sohnes, fühlte ich mich glücklich und sicher. Dort sammelte ich jeden Abend die Kraft und den Willen, meine Arbeit, die zunehmend schwieriger wurde, fortzusetzen. Als Dr. Capesius zu Besuch war, sprachen wir über Musik und Literatur, über die künstlerischen und wissenschaftlichen Errungenschaften

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