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mein Vater. »In den fünfziger Jahren hätten sie es anders gemacht. Da hätten sie die Preise für Verbrauchsgüter angehoben und die für Lokomotiven und Panzer gesenkt, so daß sie sagen konnten, unterm Strich sei alles beim alten geblieben.«

      Damals lebten wir in einer Zweizimmerwohnung. Ich schlief mit meiner Mutter in einem Zimmer, mein Vater schlief fast jeden Abend im anderen Zimmer ein, während er Radio Free Europe hörte. Von meinem Kinderbett aus konnte ich die Stimmen hören, die hin und wieder durch das pochende, pulsierende Geräusch des Störsenders drangen, um bald wieder abzuflauen. Zwar sprach sich herum, daß immer eine Frequenz des Senders nicht gestört wurde, damit für die Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei eine Transkription hergestellt werden konnte, aber diese Frequenz war nur schwer zu empfangen, und unser primitives Hörfunkgerät war nicht viel mehr als eine große Holzkiste, ein Produkt aus den Tagen vor der Erfindung des Transistors.

      Kurze Zeit, nachdem die Zeitung die Preiserhöhungen veröffentlicht hatte, bekam ich mit, daß Radio Free Europe schlechte Nachrichten zu verkünden hatte. Mein Vater bemühte sich noch eifriger als sonst um die richtige Abstimmung der Frequenz. Als wir den Sender endlich hören konnten, meldeten die polnischen Nachrichtensprecher in München, daß in mehreren Städten Polens Arbeiteraufstände ausgebrochen waren, wobei es auf der Werft von Gdańsk sogar Tote gegeben hatte. Tagelang schwiegen sich die offiziellen Medien über die Zwischenfälle aus, bis plötzlich das Fernsehen über die Ereignisse berichtete: Schwarzweißaufnahmen von Krawallen und von Menschen, die Geschäfte plünderten. Die örtliche Parteizentrale stand in Flammen, Soldaten gaben Schüsse ab. Als wir den Bruder meines Vaters in Gdańsk anrufen wollten, stellten wir fest, daß die Leitungen abgestellt worden waren.

      Die Krise dauerte an. Władysław Gomułka, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, trat »aus gesundheitlichen Gründen« zurück. Nach Weihnachten hielt Edward Gierek, der neue Parteiführer, eine Rede an das Volk. Ich sagte meinem Vater, daß jetzt die Fotografen bestimmt viel zu tun hätten. Denn Porträts des Parteiführers hingen in Schulräumen, Büros, einfach überall, und jetzt mußten alle ausgetauscht werden. Mein Vater lachte, als ich ihn fragte, wie lange das wohl dauern würde.

      Radio Free Europe war aber nur eine unter vielen Informationsquellen, die dem widersprachen, was man in meiner Schule und in den offiziellen Medien verbreitete. Im privaten Umfeld hat niemand versucht, meine politischen Ansichten zu beeinflussen, noch hat jemand mich dazu ermutigt, mich der Untergrundbewegung anzuschließen, illegale Zeitungen zu drucken oder gegen die Regierung zu agitieren. Doch auf vielerlei Weise habe ich durch verschiedene Familienmitglieder und durch ihre Erzählungen schon im jungen Alter erfahren, daß das Leben mehr zu bieten hatte als Staat, Schullehrer und Zeitungen.

      Der liebste unter den Verwandten war und ist mir Onkel Klemens, der ältere Bruder meines Vaters, der als Büchsenmacher in Gdańsk lebt. Wir sahen ihn höchstens ein paarmal im Jahr, aber jeder Besuch war ein Fest. Er hatte eine Werkstatt an der Mariackastraße, Gdańsks Prachtstraße in unmittelbarer Nähe der gotischen Kathedrale und des mittelalterlichen Rathauses. Häuser, die mit ihren gemeißelten und vergoldeten Fassaden an Amsterdam erinnern, zeugen immer noch davon, daß die Stadt einst so reich war wie Venedig. Die Werkstatt meines Onkels befand sich im Erdgeschoß eines solchen Patrizierhauses, das über einen Vorhof und eine steinerne Treppe verfügte. Den Vorhof bewachten zwei Geschütze, zwei Hellebarden umrahmten den Eingang. Drinnen waren die Wände von oben bis unten vollgehängt mit Jagdmessern, Pistolen, Schwertern und Rapieren, Pulverbehältern, Signalhörnern, Geweihen und Gewehren. Es roch nach Leder, Öl, Metallspänen und Poliermittel. Nach langem Streit mit der Stadtverwaltung hatte Onkel Klemens einen tiefen Keller unter dem Haus gegraben, um dort einen kleinen Schießstand einzurichten. Eine schmale Treppe mit einem Geländer aus Geweihstangen führte hinunter in die Höhle, wo meine Neffen und ich mit den Luftgewehren meines Onkels wahre Schützenfeste veranstalteten.

      Zu Zeiten, als man es für schick hielt, alte Holzmöbel durch Einrichtungsgegenstände aus Resopal zu ersetzen, sammelte mein Onkel haufenweise altmodischen Trödel. Nach traditioneller Gdańsker Art dunkelgebeizte Eichenkommoden und -tische füllten jede Ecke seiner Wohnung. An den Wänden hingen gekreuzte Schwerter auf Orientteppichen, von Hand gehämmerte Zinnteller und -kannen standen reihenweise in den Regalen. In den Kellerräumen bewahrte er allerlei Gerümpel auf: Säbel, Trommeln, kaputte Statuen, Stierhörner, Mühlensteine. Er war kurz nach dem Krieg nach Gdańsk gezogen, als die Stadt noch in Trümmern lag. Wie ihre Schwesterhafenstadt Königsberg war auch Gdansk im Frühling des Jahres 1945 von der Roten Armee unnötigerweise unter Beschuß genommen und gestürmt worden, als die Schlacht um Berlin längst entbrannt war. Anders als Königsberg wurde Gdańsk jedoch nicht dem Erdboden gleichgemacht, sondern wiederaufgebaut. Einen Großteil seiner Sammlung fand mein Onkel auf Spaziergängen durch die Altstadt. Die Kanäle wurden nach und nach ausgebaggert, und die Arbeiter stießen dabei hin und wieder auf Dinge wie einen mittelalterlichen Taufteller, einen Silberlöffel oder Münzen, die mein Onkel meist im Tausch gegen eine Flasche Wodka ergattern konnte. Die Arbeiter wußten freilich nicht, daß die Deutschen, als die Stadt schon in Flammen stand und die letzten Schiffe den Hafen verließen, ihre Wertgegenstände aus den Fenstern in die Kanäle geworfen hatten, in der Hoffnung, sie nach ihrer Rückkehr wiederzubekommen.

      In den Händen meines Onkels wurden die Gegenstände zum Leben erweckt. An kleinsten Kennzeichen und Merkmalen konnte er ablesen, aus welcher Gdańsker Werkstatt oder manchmal sogar von welchem Meister der Zunft sie jeweils stammten. Aus einer einzigen Schramme konnte er ihre komplette Geschichte ableiten oder wenigstens erdichten. »Die Handwerkskunst!« schwärmte er dann. »Früher hat sie dieser Stadt einmal zu Reichtum verholfen, aber heutzutage können die Leute nichts anderes als quatschen.« Onkel Klemens muß allerdings etwas von seinem Handwerk verstanden haben, denn aus dem ganzen Land strömten die Kunden in seine Werkstatt. Mit seinen Jagdgeschichten vermochte er Kunden und Freunde zu fesseln, auch wenn wir wußten, daß sie stark übertrieben waren.

      Onkel Klemens’ politisches Interesse galt einzig und allein der Altstadt von Gdańsk. Statt der Schaufenster mit Bernsteinnippes für Touristen sollten seiner Meinung nach hämmernde und schnitzende Handwerker den Ton angeben. Er setzte sich für die Wiederbelebung eines alten Schützenvereins ein, suchte die Lokalbehörden zu bewegen, das Zeughaus wiederzueröffnen, und war immer bereit, während des historischen Handwerksmarkts im Sommer in einem traditionellen kontusz herumzulaufen. Nur wenn man ihn ausdrücklich danach fragte, erzählte er, wie die große Politik sein Leben beeinflußt hatte. Er hatte zwanzig Jahre lang in der Armee gedient, wo er Kurse veranstaltete und Büchsenmacher ausbildete. Die meisten Offiziere waren Parteimitglieder, aber er gehörte zu einer kleinen Minderheit ohne Parteibuch. Zunächst entstanden ihm daraus keine Nachteile, denn Fachkräfte waren rar. Im Jahre 1968 kam es aber zu Säuberungen und einer Welle antisemitischer Hysterie, die von der Partei angefacht wurde, um Gegner in den eigenen Reihen loszuwerden. Gleichzeitig wurden jedoch auch andere Unerwünschte unter Beschuß genommen. Onkel Klemens wurde vor die Wahl gestellt, entweder Parteimitglied zu werden oder zu kündigen – er verließ die Armee ein Jahr vor seiner Pensionsberechtigung. Seine Verwandten mahnten ihn, seinen Mund zu halten und realistischer zu werden. Ohne Erfolg. Einige Jahre später, nachdem er es gewagt hatte, sich über Parteiführer zu beschweren, die in seinem Revier von Hubschraubern aus auf Rehe schossen, wurde er als Jagdführer abgesetzt. Aber trotz dieses Unrechts wurde mein Onkel noch nicht zum Dissidenten. Er kehrte der kommunistischen Gesellschaft einfach den Rücken und beschränkte seine Bestrebungen auf die Werkstatt und die Antiquitätensammlung. Er ist das beste Beispiel dafür, daß man unter einem kommunistischen Regime leben und trotzdem eine reine Weste behalten konnte.

      Ein anderer Onkel, mein Großonkel Stefan, hat 1920 noch im glorreichen Krieg gegen die Bolschewiken gekämpft. Zunächst diente er unter dem großen polnischen Feldherr Józef Piłsudski, der mit seinem Gefolge bis nach Kiew vorstieß. Als später die Rote Armee Polen überfiel und der UdSSR einverleiben wollte, kämpfte Onkel Stefan in der Nähe von Warschau. Über seine Erlebnisse hat er nie besonders viel erzählt, doch die bloße Tatsache, daß er an einem Krieg gegen die Rote Armee teilgenommen hatte, machte es mir schwer zu glauben, was man mir in der Schule beibringen wollte: daß die Rote Armee der beste Freund der polnischen Kinder sei.

      Meine Kindheit fiel in eine Periode ungewöhnlichen Wohlstandes.

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