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Schulzeit fand jedoch 1974 statt, als wir das dreißigjährige Jubiläum der Miliz und der Staatssicherheit begingen. Da der Gatte unserer Direktorin ein hohes Tier bei der Staatssicherheit war, wurde der Tag der Miliz jedes Jahr ausgiebig gefeiert, wobei die jährlichen Berichte in der Schulchronik mit unfreiwillig komischen Zeichnungen von zähnefletschenden und bluttriefenden Schäferhunden gespickt waren. Diesmal sollte der Schule eine große Ehre erwiesen werden: Sie wurde nach dem heldenhaften Genossen Zdzisław Wizor benannt, einem engagierten jungen Leutnant der Staatssicherheit aus unserer Region, der 1946 im Kampf gegen eine konterrevolutionäre Bande – d.h. eine antikommunistische Widerstandsgruppe – ums Leben gekommen war. In der Schule lasen wir Zeitungsartikel über ihn, zum Beispiel diesen aus dem lokalen Parteiorgan, der Gazeta Pomorska:

      Das Gedenken am dreißigsten Jahrestag der Gründung der Volksmiliz und des Staatssicherheitsdienstes gilt Menschen, die sich mit hohem Einsatz dem Aufbau unseres Vaterlandes gewidmet haben. In den ersten Jahren nach dem Krieg, in einer Zeit, da die Fundamente der polnischen Volksdemokratie gelegt wurden, griffen Offiziere der Volksmiliz und des Staatssicherheitsdienstes zu den Waffen, um ihre sozialistischen Ideale zu verteidigen. Viele von ihnen opferten ihr Leben im Kampf gegen reaktionäre Banden. Heute ist das Andenken an sie erfüllt von der Achtung des ganzen Volkes.

      In der Polnischstunde schrieben wir Geschichten über den Helden und beschrieben die Vorbereitungen für den denkwürdigen Tag: »Die Poesiegruppe und der Chor arbeiten an einer künstlerischen Veranstaltung mit Worten und Musik«, heißt es in einem meiner Schulhefte. »Alle Schüler studieren ihre Rollen ein. Das Schulgebäude wird herausgeputzt. Die Außenmauern und die Wände wurden neu gestrichen, die Klassenzimmer werden geschmückt. Eine Auswahl aus Schülerzeichnungen über die Volksmiliz ist im Saal im ersten Stock zu besichtigen. Eine Gedenktafel zu Ehren unseres Helden wurde in der Halle aufgehängt.« Die Schülerzeichnungen entstanden im Rahmen eines Wettbewerbs zum Thema »Dreißig Jahre Volksmiliz aus der Sicht eines Kindes«. Die zehn besten Zeichnungen sollten im Warschauer Innenministerium ausgestellt werden.

      Am Gedenktag war die Versammlung auf dem Schulhof größer als üblich. An der Fassade des Schulgebäudes prangte die Parole: »Er lebt weiter in unseren Herzen.« Alle trugen Uniform und Halstuch – jede Klasse hatte ihre eigenen Farben. Unter den Gästen waren einige hochgestellte Persönlichkeiten: der Ortskommandant der Polizei, die Witwe unseres Helden und seine Tochter, ein Sekretär des örtlichen Parteikomitees, der Bezirksleiter des Bildungsressorts, der Vorsitzende des Veteranenverbandes der Kommunisten und die komplette Lokalprominenz. Die Milizkapelle spielte die Internationale, und wir leisteten den feierlichen Eid, in Leutnant Wizors heroische Fußstapfen zu treten.

      Während die Lehrer sich auf das andächtige Geschehen konzentrierten, waren wir heimlich damit beschäftigt, Münzen in einen Spalt zu werfen, der sich im Pflaster aufgetan hatte. Man mußte versuchen, seine Münze zunächst mit einem Wurf so nah wie möglich an den Spalt heran zu bekommen und dann mit dem Daumen immer näher und schließlich hinein zu schnippen. Wer dazu die wenigsten »Würfe« benötigte, hatte gewonnen und durfte die Münzen der anderen einsacken.

      Noch befinden sich die Fotos von der damaligen Zeremonie in der Schulchronik, und die Gedenktafel hängt nach wie vor an derselben Stelle. Doch bald wird die Schule ein weiteres Mal umgetauft, und die Tafel soll entfernt werden. Es hat sich mittlerweile herausgestellt, daß Leutnant Wizors heroischer Lebenslauf zu großen Teilen gefälscht war. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal einen Schulabschluß, und – wichtiger noch – langsam kommen Zweifel an seiner revolutionären Gesinnung auf. Es hat sich herumgesprochen, daß sein Eifer vielleicht weniger mit seinen kommunistischen Überzeugungen zu tun hatte, sondern vielmehr dazu dienen sollte, von seiner Kollaboration mit den Nazis zu Kriegszeiten abzulenken. Davon hat uns 1974 natürlich niemand etwas erzählt.

      Was die Indoktrinationsversuche anbelangt, war die »Freiwilligenarbeit« wohl die entlarvendste Aktivität, die uns die Schule zumutete. Freiwillig war die Teilnahme daran natürlich keineswegs. Normalerweise wurden wir für die Kartoffelernte zu landwirtschaftlichen Genossenschaften abgeordnet. Die Ausflüge wurden von der Schule organisiert und sollten uns, der zukünftigen Intelligenzija, Respekt vor der Mühsal unserer Genossen Arbeiter und Bauern einflößen. Tatsächlich hat man uns die sozialistische Arbeitsmoral beibringen können. Wir mußten hinter einer Maschine herlaufen, die die Kartoffeln aus dem Boden hob; unsere Aufgabe bestand darin, sie in Körben aufzusammeln, die auf die Ladefläche eines Lastwagens auszuschütten waren. Nach ein paar Stunden, als wir schon Kreuzschmerzen vom Bükken und Heben bekamen, drückten wir jedoch jede zweite Kartoffel mit einem ordentlichen Tritt zurück in den Boden. Am Ende unserer Schicht war zwar das Feld leer, aber der Laster erst halb voll. Die Bauern wußten natürlich, was los war, und ließen dasselbe Feld durch verschiedene Schulklassen wieder und wieder abernten. Ich zweifle sehr daran, ob unser Beitrag das Benzin wert war, das für unsere Busfahrt aufs Land aufgewendet wurde.

      In den Fabriken stahlen wir alles, was nicht niet- und nagelfest war. Einmal wurden wir in einen Tochterbetrieb von Romet, Polens größtem Fahrradhersteller, entsandt. Nachdem wir uns einen Tag lang um die Arbeit herumgedrückt hatten, verließ jeder die Fabrik mit einem Haufen Ersatzteile für sein Fahrrad, die man in den Läden oft nicht bekommen konnte.

      Als wir schon etwas älter waren, wurde die Gehirnwäsche unter dem Titel »Staatsbürgerliche Erziehung« in einem speziellen Kurs durchgeführt. Dort wurden wir über die sozialistische Verfassung, das Einmaleins des Klassenkampfs und das Übel des Kapitalismus informiert. Ein Jahr lang hatten wir in diesem Kurs eine Lehrerin, die ungewöhnlich groß war und ständig rosa, orange und violette Klamotten trug. Sie glaubte wirklich an die Dinge, die sie uns lehrte. Wir nannten sie Skarpeta, auf deutsch »Socke«, weil sie einmal eine Socke aus ihrer Tasche nahm, um sich damit die Nase zu putzen. In ihrem Unterricht setzten wir uns nie in die vorderen Bänke, denn ihr fehlte ein Zahn, und wenn sie sich aufregte, was häufig vorkam, spuckte sie die armen Schüler in der ersten Reihe an. Wenn man sich mit ihr anlegte, egal, um welches politische Thema es ging, wurde sie wütend. »Wie kannst du das sagen? Meine Eltern waren Bauern, ich bin Lehrerin. Sieh doch, was wir alle dem Sozialismus verdanken!«

      Mein Gymnasium befand sich im Zentrum von Bydgoszcz und war ebenfalls nach einem Kommunisten benannt worden, einem Aktivisten aus dem 19. Jahrhundert namens Ludwik Waryński. Dort schrieb ich auch die Prüfung in Geschichte, die meine Mutter im Schrank versteckt und für die Nachwelt aufgehoben hat:

      1 Erörtere das Problem des privaten Landeigentums von 1947 bis 1956; nach 1956; heute.

      2 Erörtere die sozialpolitischen Neuerungen für die Landbevölkerung in den Jahren 1971 bis 1980.

      3 Durch welche Regierungsmaßnahmen können die Situation der Landwirtschaft und die nationale Nahrungsversorgung verbessert werden?

      4 Erörtere die Organisationsformen der landwirtschaftlichen Selbstverwaltung.

      Meine Antwort auf die erste Frage begann folgendermaßen: »Nachdem die Exilregierung in London am 1. August 1944 eine Bodenreform beschlossen hatte, sah sich die kommunistische Regierung aus politischen Gründen gezwungen, ihrerseits eine Bodenreform anzukündigen ...«

      Rückblickend wunderte ich mich, wie ich überhaupt zu meinem Wissen über die polnische Exilregierung kam, die im Unterricht als ein belangloses Intermezzo abgetan wurde. Denn was wußte man schon? Als ich 1990 einige Kolchosen in der Sowjetunion besuchte, fragten mich die Leute allen Ernstes, wo das Leben besser sei: dort oder im Westen. Doch als ich mich an meine Jugend erinnerte, wurde mir bewußt, daß die offizielle Erziehung nur einen Teil – und zwar den kleineren Teil – meiner Entwicklung ausmachte.

      Anders als mein erstes politisches Erlebnis der Maidemonstration, das ich zeitlich nicht genau einzuordnen vermag, kann ich das zweite Erlebnis, das im Gedächtnis haftengeblieben ist, genauer datieren, und zwar auf den Dezember des Jahres 1970. Ich war damals siebeneinhalb Jahre alt. Eines Tages kam mein Vater mit ein paar Zeitungen nach Hause, die dicker als üblich waren. Sie enthielten

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