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bin, werde ich die Kälte bewusst wahrnehmen und meine Gefühle analysieren können.

      Mein erster Tag geht bald zu Ende. Um halb fünf kam die Dunkelheit und mit ihr der Nebel. Die Beleuchtung ist angeschaltet. Um sechs Uhr fünfunddreißig erscheint der Chef mit einem Buch in der Hand. »Wie viele Kisten hast du, Junge?« »Dreiundzwanzig.« »Alle Achtung, das ist gut. Du schlägst dich wie ein Löwe. Gefällt es dir?« Kraftlos sage ich Ja. Dabei wäre jetzt der Moment … Er geht durch die Halle und notiert die Arbeit der anderen Kistenbauer.

      Plötzlich schlägt eine Uhr halb sieben. Augenblicklich sind die kleineren Maschinen ausgeschaltet, eine Minute später auch die Bandsäge. Große Stille. Wortlos räumt jeder seinen Arbeitsplatz auf. Alles ist trostlos und eisig. Pressurot sagt etwas Dummes wie: »Nicht sehr warm, oder? Und bei so einem Wetter muss man auch noch arbeiten.« Die Arbeiter gehen nacheinander hinaus, entweder wortlos oder sie grummeln noch kurz: »Schönen Feierabend noch …«

      Es ist seltsam. Ich habe den Eindruck, als würden sich die Arbeiter nicht leiden können. Es wird drei Monate dauern, bis ich die Geschichten aus dem Sägewerk durchblicke. Es sind keine schönen Geschichten.

      Mir ist dermaßen kalt, dass ich kaum auf mein Rad komme. Ich fahre gemeinsam mit Bibi und seiner Tochter. Er ist der Erste, der mir sagt, worauf es im Sägewerk ankommt: »Erstens: Halt immer die Klappe. Du hörst alles, du siehst alles, und du machst es wie ich: Du sagst nichts, kapiert? Den Typen, die mit uns arbeiten, kann man nicht trauen. Sie grinsen dir ins Gesicht und schwärzen dich hinter deinem Rücken beim Boss an. Pressurot ist ein Dreckskerl, hörst du? Wenn du irgendwann weißt, was ich über ihn weiß, und wenn du gesehen hast, was ich gesehen habe, dann wirst du mich verstehen. Außerdem ist er pleite. Deinen Lohn wird er dir nur scheibchenweise auszahlen. Vergiss nicht, was ich dir sage, Junge, ich bin wie ein Vater für die Arbeiter. Pressurot kann übrigens von Glück sagen, dass er mich hat. Niemand würde gerne die Arbeit machen, die ich da drin mache. Das ist ein Leben wie in der Strafkolonie. Und das seit drei Jahren mittlerweile. Außer mir hat noch niemand länger als ein Jahr durchgehalten. Seit ich da drin bin, habe ich zweihundert Kerle kommen und gehen sehen. Ah! Ich habe mich schön abgerackert, so eine gottverdammte Scheiße. Aber du wirst schon sehen, bist ja nicht blöd!«

      In der Tat, ich sollte bald sehen.

      Ich sollte sehen, dass Pressurot blank war, dass sich die Arbeiter gegenseitig das Leben zur Hölle machten und dass Bibi der König aller Arschlöcher war. König, das ist nicht übertrieben, ich habe noch nie jemanden gesehen, der so hinterhältig, so dumm, so großmäulig und so verlogen war wie er.

      Später habe ich ihn drangekriegt, den Bibi, und zwar richtig. Es wird sich noch zeigen, wie.

      Als er seine Ansprache beendet hat, erreichen wir Saint-Dyé, und ich flüchte mich schnell ins Haus. Ich sage Yvonne, dass ich ganz gut zurechtkomme, und wir reden ein wenig über Bibi. Yvonne hat sich umgehört, es sieht so aus, als dürfe man dem Kerl nicht über den Weg trauen. Anscheinend stiftet er Unfrieden, sobald er den Mund aufmacht. Langsam wird mir wieder warm, um acht Uhr gehe ich ins Bett. Mein Kopf und meine Füße schmerzen.

      Am nächsten Tag stehe ich zur selben Uhrzeit auf wie am Vortag. Wieder fahre ich los, wieder zittere ich zehn Stunden vor Kälte, wieder fahre ich nach Hause. Den gesamten Winter hindurch sehe ich von Saint-Dyé nur die schwarze, vereiste Straße Richtung Muides. Sonntags gehe ich nicht aus dem Haus, ich habe kein Geld, ich gebe mein ganzes Gehalt Yvonne. Ich habe keine Freunde: Raymond ist in Paris, Jacques ist in Blois. Unter der Woche fahre ich los, wenn es noch dunkel ist, ich komme zurück, wenn es wieder Nacht ist. Außerdem gibt es neue Probleme: Mittlerweile ist mein rechtes Handgelenk geschwächt und durch das ununterbrochene Hämmern angeschwollen. Ich muss eine Bandage tragen. Wenn ich morgens die ersten Nägel einschlage, fühlt es sich an, als müsste ich mit zertrümmerten Handgelenken Backsteine bearbeiten. Das Schlimmste ist, dass meine Produktion trotz aller Bemühungen um die Hälfte zurückgeht, und das bei maximaler Anstrengung. Die anderen Kistenbauer sagen mir, dass sie das kennen, dass ich nur drei oder vier Tage Pause machen muss, dass es dann vorbeigeht. Aber ich will keine Pause machen. Ich verdiene gerade einmal zwölftausend Francs im Monat, ich kann es mir nicht leisten zu kneifen. Mein Handgelenk schwillt immer weiter an, es schmerzt so sehr, dass ich den Hammer nicht mehr halten kann. Also muss ich mit links hämmern, doch bis ich das gelernt habe, sind mein rechter Daumen und Zeigefinger buchstäblich zerhämmert. Das ganze Nagelbett blutet, die zehn Stunden sind ein einziger Albtraum. Bibi sieht an seiner Kreissäge, dass ich Probleme habe. Er kommt zu mir, väterlich, herzlich, scheißfreundlich: »Armer Bursche! Bist eben nicht gemacht für diesen Beruf, man hat dich ja auch nicht darauf vorbereitet. Tja, was soll ich sagen, man ändert sich eben nicht von heute auf morgen, wenn man vorher noch nie gearbeitet hat …«

      Seine dunkelgrauen Augen blitzen böse. Er kennt meine Familie, er weiß, dass mein Vater Ingenieur war, dass ich das Gymnasium besucht habe, und es gefällt ihm, einem Sohn aus sogenannt gutem Hause dabei zuzusehen, wie er sich für ein paar Kröten die Finger kaputtschlägt.

      Ich will nicht aufgeben, vor allem, weil ich diesen Arschlöchern aus dem Dorf zeigen will, dass ich in der Lage bin, mit jeder Arbeit genug Geld zum Leben und für das Haus zu verdienen. Allerdings kommt mich dieser Starrsinn teuer zu stehen. Meine Hände sind blutig, mein Handgelenk ist wie zertrümmert, ich friere. Außerdem kann ich mich mittlerweile ganz meinen Gedanken widmen (die Arbeit geht ganz von alleine). Meine Zukunft sieht alles andere als rosig aus. Es ist die bis dato trostloseste Zeit in meinem Leben. Ich bereue es mehr denn je, mein Abitur nicht geschafft zu haben, ich sehe keinen Ausweg, ich bin aufgeschmissen. Die Leute aus Saint-Dyé bekommen mich nur noch sehr selten zu Gesicht, sie sagen, dass ich mich abschotte. Auch Yvonne beschwert sich über meine Schweigsamkeit und meine Verschlossenheit. Ich lache nicht mehr, lächle nur sehr selten. Ich werde hartherzig, verbittert. Ich finde, dass ich genug leide, um mir nicht noch irgendwelche Vorwürfe anhören zu müssen. Ich habe für Yvonne und das Haus alles gegeben: meine Zukunft. Jetzt will ich, dass man mich in Ruhe lässt.

      Je weiter der Winter fortschreitet, desto härter wird die Arbeit. Die Kälte macht uns, die Kistenbauer, die sich den ganzen Tag nicht bewegen, völlig starr.

      Die Pappelbretter kleben durch das gefrorene Harz aneinander. Auch die Nägel gefrieren: Wenn man einen nimmt, hat man drei in der Hand. Durch den Luftzug, der durch die Rotation der Sägeblätter erzeugt wird, gefriert die Flüssigkeit, die aus dem Pappelholz sickert, auf der Sägebank: Der Tisch der Kreissäge ist ebenso vereist wie der Laufwagen der Bandsäge. Die zehn Arbeitsstunden sind für alle eine einzige Qual. Bibi hält sich an seiner Führung fest und hustet tief, es klingt nicht gut. Oft ertappe ich ihn, wie er zu mir herüberblickt. Er befürchtet, dass ich mehr Kisten als seine Tochter schaffe, er ist neidisch. Manchmal macht er eine kurze Pause und stöhnt, die Augen nach oben gerichtet: »Ah, verdammt, ist das kalt!«

      Später werde ich erfahren, dass die Arbeit an der Kreissäge wegen des vom Sägeblatt verursachten Luftzugs im Winter besonders schlimm ist. Er zeigt mir das Eis auf der Sägebank und dann seine Hände, die von der Kälte ganz rissig sind. Er muss ziemlich leiden. Ich denke: »Geschieht dir recht, Arschloch.«

      Gauthier und Jules bekommen die kalte Luft mitten in die Visage, ihre Nasen triefen (der Teil des Sägewerks, in dem sie arbeiten, hat keine Wände, damit man auch große Blöcke hineinschaffen kann). Gauthier ist violett, Jules leichenblass. Mit der immer gleichen gebeugten Körperhaltung schieben sie ihren Laufwagen. Sie sehen aus wie zwei angekettete Zwangsarbeiter. Von Zeit zu Zeit machen sie eine kurze Pause und trinken einen großen Schluck eiskalten Wein. Offenbar wärmt es sie auf.

      Pressurot arbeitet am übelsten und gefährlichsten Posten: Er ist an den Taumelsägen. Das sind zwei kleine Kreissägen, die schief auf die Sägespindel gespannt sind, wodurch sie jeweils auf einer Breite von einem Zentimeter sägen. Es ist genauso wie bei eiernden Sägeblättern: Sie sägen eine Nut von einem Zentimeter. Und sie verursachen einen gewaltigen Luftzug. Pressurot steht vor ihnen, er trägt zwei Pullover, seine Lammfelljacke und seine Holzschuhe. Seine Hände stecken in Fäustlingen, was sehr gefährlich ist. Seine Baskenmütze sitzt tief im Gesicht, um seine Augen vor dem umherfliegenden Sägemehl zu schützen. Er atmet schwer und beißt manchmal die Zähne zusammen, wenn er seine Bretter in die Sägen

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