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einen »Bruch« mit der Spätaufklärung markiere, ja sogar als »zentrales Archiv der späteren romantischen Literatur« (Kremer 2011, S. 504) bezeichnet werden könne:

      »Der blonde Eckbert« spielt die generischen Möglichkeiten des romantischen Kunstmärchens beinahe vollständig aus. […] Der epochale Bruch mit der Literatur der Spätaufklärung läuft über die Behauptung und Begründung ästhetischer Autonomie, deren Rückseite eine Abgrenzung von der rationalen Zweckbestimmung der Wissenschaft und der moralischen Funktionalität der Literatur der Aufklärung bezeichnet. Die beanspruchte Autonomie des romantischen Textes besteht u. a. in einer weitgehenden Selbstreflexion, in atmosphärischer Ambiguität und allegorischer Verdichtung, aber auch in einer auffälligen psychologischen Differenzierung. (Kremer 2011, S. 504)

      Alle diese Kriterien finden in Tiecks Kunstmärchen Der blonde Eckbert ihre Konkretion: die Behauptung ästhetischer Autonomie qua erzählerischer Rahmung und selbstreferentieller Rückkopplung, die Verkettung von Wunderbarem und Wahrscheinlichem, die kunstvolle Ausgestaltung von (Leit-)Motiven wie auch die psychologisch höchst ausdifferenzierte Ambivalenz des Protagonisten.

       1.4 Undine (Friedrich de la Motte Fouqué, 1811)

      Mit Friedrich de la Motte Fouqués Undine (1811) rückt ein etwa zehn Jahre später entstandenes, in diesem Fall unbestrittenes »Kunstmärchen« in das Blickfeld. Fouqué adaptierte darin Motive aus einer Schrift von Paracelsus über die Elementargeister (Liber de Nymphis, Sylphis, Pygmaeis et Salamandris, et de caeteris spiritibus) von 1591. Im Zentrum der Handlung steht die titelgebende Protagonistin, die dem Wasserreich entstammt und zunächst als launisch-eigensinniges Mädchen eingeführt wird, das einem Fischerpaar als Kind zugelaufen war. Ähnlich wie in Tiecks Der blonde Eckbert entsteht auch zu Beginn dieses Novellenmärchens eine Erzählsituation, die durch den späten Besuch eines Gastes – in diesem Fall ein dem »magischen« Wald entflohener Ritter namens Huldbrand – hervorgerufen wird. Um den nächtlichen Gast zu unterhalten und von der Exzentrik Undines genervt, erzählt der Fischer davon, wie das Mädchen zu ihm gekommen war (Zweites Kapitel). Die Intradiegese erklärt Undines Herkunft zwar nicht gänzlich, enthält aber erste Hinweise auf deren enge Verbundenheit mit dem Wasser. Zudem erzeugt der offenbar unmittelbar aufeinanderfolgende Tod der Fischertochter und das Zulaufen des Mädchens vom Wasser her eine Spannung, die bereits auf den »Kardinalpunkt im problematischen Verhältnis zwischen Mensch und Elementargeist« (Mayer/Tismar 2003, S. 74) hindeutet: die Seele. Dass Undine nur durch die geschlechtliche Verbindung mit einem Mann zum Menschen werden kann, dieses Dasein aber zudem an die eheliche Treue des Gatten gebunden bleibt, markiert den tragischen Knoten der Handlung.

      Mit weiteren erzählerischen Einschüben, die zunächst vom Ritter selbst, dann von Undines Perspektive aus erfolgen, wird die Verflochtenheit der Erzählebenen noch gesteigert. Hinzu tritt eine Person, welche die literarisch typische Konstellation eines zwischen zwei Frauen stehenden Mannes noch verschärft. Huldbrands Verhalten entspricht denn auch der erwartbaren, aber den Entwicklungsprozess Undines unterminierenden Reaktion. Hatte sich diese auf der Burg des Ritters zu einer »liebende[n], leidende[n] Frau« entwickelt, versichert sich Huldbrand im Stillen wiederholt seines Selbstmitleids: »Das kommt davon, wenn gleich sich nicht zu gleich gesellt, wenn Mensch und Meerfräulein ein wunderliches Bündnis schließen.« (Fouqué 1979, S. 619) Dass sich diese Beteuerung zu einer Art self- fulfilling prophecy entwickelt, täuscht nicht darüber hinweg, dass die Sphärentrennung von Erden- und Wassermenschen letztlich fiktional transzendiert wird durch den schicksalhaften Einbruch des Wunderbaren in die Handlungswirklichkeit. Ob der Sieg, den die metaphysische Nemesis dabei davonträgt, als romantisches Aufbäumen vor dem (poetischen) Realismus interpretiert werden kann oder ihm vielmehr eine eigene literarische Tiefendimension zugesprochen werden muss, hängt nicht zuletzt davon ab, welcher Perspektive – der literaturgeschichtlichen oder der rezeptionsästhetischen – man den Vorzug geben möchte. Von Tiecks Kunstmärchen hebt sich Fouqués Undine durch das hochkomplexe Hintereinanderschalten von mehreren Binnenerzählungen ab, die alle Hauptcharaktere (Fischer, Ritter Huldbrand, Undine) zu Wort kommen lassen und ihre jeweiligen Perspektiven und Erfahrungen mit metaphysischen, »verwunderlichen Schatten« (Fouqué 1979, S.566) und Mächten wiedergeben. Die Lektüre dieses virtuosen Textes bei hochgradiger, allegorischer Verdichtung bleibt dennoch spannungsreich, da ihn Fouqué in insgesamt neunzehn Kapitel gliedert, die jeweils einen Zwischentitel enthalten – und den LeserInnen sowohl Orientierung verschaffen als auch das Interesse am Fortgang der Handlung erhalten.

       2. Ausblick und Schluss: Gegentendenzen in Büchners »Antimärchen« (Woyzeck, 1837)

      Grossmutter: »[…] Es war einmal ein arm Kind und hatt kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es is hingangen und hat gesucht Tag und Nacht. Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehen, und der Mond guckt’ es so freundlich an; und wie es endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz. Und da ist es zur Sonn gegangen, und wie es zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum. Und wie’s zu den Sternen kam, waren’s kleine goldne Mücken, die waren angesteck, wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt. Und wie’s wieder auf die Erde wollt’, war die Erde ein umgstürzter Hafen. Und es war ganz allein, und da hat sich’s hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein. (Büchner 2006, S. 23)

      Trotz der Eingangsformel »Es war einmal…« und bekannten Narrativen, die nicht zuletzt dem Märchen Die Sterntaler entnommen sind, bricht Büchners Antimärchen vor allem inhaltlich mit den Konventionen des Volksmärchens. Verglichen mit der intertextuellen Parallele und entgegen der eingeübten Rezeptionshaltung, sieht das »arm Kind« keiner Verbesserung, keiner glücklichen Fügung entgegen. Dabei strahlt die Erzählung auf das Drama aus: Wie das Kind im verzerrten Märchen der Großmutter, steht dem gemeinsamen Kind von Woyzeck und Marie ein Waisenschicksal bevor. Der Kontrast zwischen den aufgerufenen romantischen Topoi – Himmel, Mond, Sonne – und der ausweglosen Situation des Kindes lässt zudem die Prekarität einer sozialen Klasse hindurchscheinen, die keine ernsthaften Absichten auf den gesellschaftlichen Aufstieg hegen darf. Tripp hat es daher als »das Märchen der Moderne« bezeichnet: »ein verzerrtes Märchen, in dem das Subjekt entfremdet und ohne jene Zuflucht außer dem Tod ist« (Tripp 2010, S. 73). Es lässt sich in diesem Sinne als Endpunkt einer Entwicklung verstehen, die mit den aufwändig disponierten, selbstreferentiellen Kunstmärchen Ludwig Tiecks begonnen hatte, durch viele seiner Schriftstellerkollegen – unter ihnen Goethe (Märchen, Der neue Paris, Die neue Melusine), de la Motte Fouqué und Novalis – aufgegriffen und befördert worden war. Als poetische Form kam das Kunstmärchen der Realisierung des romantischen Programms einer »progressiven Universalpoesie« wohl am nächsten, deren »Bestimmung« Friedrich Schlegel darin sah, »alle getrennte[n] Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen«:

      Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen,

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