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kein Bewusstsein gab, vor Plagiaten und eigenen Produktionen nicht halt. Historische wie gegenwärtige Realität ist das Ergebnis von oft nicht (mehr) sichtbaren Aushandlungsp rozessen: »Individuelle wie kollektive Vergangenheit […] werden in sozialer Kommunikation beständig neu gebildet.« (Welzer 2005, S. 44) Es gilt daher, sich den spezifischen, die Entstehung der Gattung Märchen prägenden Diskurs der Zeit zu erschließen, um die Mechanismen dieser Arbeit an der »Vergangenheit« besser verstehen zu können.

      Die Brüder Grimm schufen, in der fortdauernden Bearbeitung vor allem durch Wilhelm Grimm, eine verbindliche Form für eine sehr einfache und nicht zuletzt auch dadurch sehr populäre, aber zugleich ausgesprochen voraussetzungsreiche kurze literarische Form – das sogenannte Volksmärchen. Von Lothar Bluhm (2011, S. 17) wird es zu Recht als »Buchmärchen« bezeichnet, da es sich bei der behaupteten Methode der Aufzeichnung um einen Mythos im genannten Sinn handelt, also um die Arbeit an einer »deutschen« Kultur, die zugleich für die kaum verfügbare und vorzugsweise idealisierte Vergangenheit wirksam werden soll.

      Für die meisten der von ihnen »nacherzählten« Märchen verwendeten die Grimms Vorlagen aus Märchen- und Novellensammlungen anderer Sprachen. Zu nennen sind beispielsweise Giovan Francesco Straparolas Die ergötzlichen Nächte (1550–53), Giambattista Basiles Das Pentameron (1634–36) und Charles Perraults Contes du temps passé (1697) (vgl. Neuhaus 2017c, S. 64–82). Viele dieser und anderer Quellen waren auch im sozialen Umfeld der Grimms bekannt: »Die Gewährsleute der ersten Stunde sind durch die Namen Mannel, Wild und Hassenpflug gekennzeichnet. Es handelt sich ausnahmslos um überdurchschnittlich gebildete Frauen aus gutsituierten Familien« (Rölleke 2004, S. 76). Die Grimms selbst legten, als »gute« Editoren, in einem umfangreichen Kommentarteil viele ihrer Quellen offen (vgl. Brüder Grimm 1994, Bd. 3).

      Die »Vorrede« zur zweiten, bereits von Wilhelm Grimm weiter bearbeiteten Ausgabe von 1816 ist aus heutiger Sicht eine fragwürdige Mystifikation:

      Wir finden es wohl, wenn von Sturm und anderem Unglück, das der Himmel schickt, eine ganze Saat zu Boden geschlagen wird, daß noch bei niedrigen Hecken oder Sträuchen, die am Wege stehen, ein kleiner Platz sich gesichert hat und einzelne Ähren aufrecht geblieben sind. Scheint dann die Sonne wieder günstig, so wachsen sie einsam und unbeachtet fort: keine frühe Sichel schneidet sie für die großen Vorratskammern, aber im Spätsommer, wenn sie reif und voll geworden, kommen arme Hände, die sie suchen, und Ähre an Ähre gelegt, sorgfältig gebunden und höher geachtet als sonst ganze Garben, werden sie heimgetragen, und winterlang sind sie Nahrung, vielleicht auch der einzige Samen für die Zukunft.

      So ist es uns vorgekommen, wenn wir gesehen haben, wie von so vielem, was in früherer Zeit geblüht hat, nichts mehr übrig geblieben, selbst die Erinnerung daran fast ganz verloren war, als unter dem Volke Lieder, ein paar Bücher, Sagen und diese unschuldigen Hausmärchen. Die Plätze am Ofen, der Küchenherd, Bodentreppen, Feiertage noch gefeiert, Triften und Wälder in ihrer Stille, vor allem die ungetrübte Phantasie sind die Hecken gewesen, die sie gesichert und einer Zeit aus der andern überliefert haben.

      Es war vielleicht gerade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltener werden. (Brüder Grimm 1994, Bd. 1, S. 15)

      Es ist hier weder der Raum, die Geschichte der Germanistik aus einer frühen Form der Editionsphilologie zu entwickeln, noch besteht hier die Möglichkeit, das Konzept der Volkspoesie Herders und dessen Wirkung nachzuzeichnen. Wichtig ist festzuhalten, dass es für die Brüder Grimm kein Gegensatz und nicht einmal ein Widerspruch war, dass sie schriftliche Quellen und mündliche Überlieferungen, die auf schriftliche Quellen zurückgingen, als Material für ihre Bearbeitungen nutzten und dies nicht als Konstruktion, sondern als Rekonstruktion idealtypischer bürgerlicher »deutscher« Erzählungen verstanden. Der ganze Prozess der durchaus auf Popularität und Wirkung zielenden Bearbeitung insbesondere durch den Wechsel der Ausrichtung von einem an Editionen interessierten Fachpublikum hin zu einer breiten und vor allem kindlichen Öffentlichkeit wird in der »Vorrede« angesprochen: »Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit einer geraden, nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung. Dabei haben wir jeden für das Kindesalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht« (Brüder Grimm 1994, Bd. 1, S. 17).

      Wie skrupulös die Grimms beispielsweise alles Sexuelle, das sich in den Ursprungstexten in großer Deutlichkeit findet, getilgt haben, konnten Beat Mazenauer und Severin Perrig zeigen (vgl. Mazenauer/Perrig 1998). Viele der Stoffe, die sich teilweise bis ins frühe Mittelalter zurückverfolgen lassen, bearbeiten Themen, die Menschen in ihrer Zeit beschäftigten, etwa die Frage des Scheintodes oder der möglichen Folgen unehelichen Geschlechtsverkehrs. Das konnte aber in einer vom Entstehen der modernen Wissenschaften ebenso wie vom Tugendbegriff und Erziehungsprogramm der Aufklärung geprägten, kulturell und politisch neuen Halt suchenden Gesellschaft keine Rolle mehr spielen. Dazu kommt: Kinder und ihre erwachsenen Mitleser*innen sind, das haben die Grimms – vielleicht auch durch die Wirkung von Des Knaben Wunderhorn – zunehmend erkannt, viel leichter zu erreichen und im skizzierten »bürgerlich«-ideologischen Sinn zu beeinflussen. Diese Arbeit der Grimms an »ihren« Märchen geschah dabei nicht vorrangig reflektiert-konzeptionell, sondern ganz konkret im Austausch mit den aufgeklärt erzogenen, entsprechend (vor-)gebildeten Mitbürger*innen (vgl. Martus 2015, S. 211). So suchten und fanden sie »ihren« originellen Weg und schufen eine der populärsten Textsammlungen aller Zeiten.

      Verblüffend ist im Nachhinein, wie sehr der Erfolg den Brüdern Grimm recht gab: Die KHM gelten bis heute als Ursprungserzählungen nicht nur »deutscher« Kultur, sondern einer Ursprungskultur, die von der »verspäteten Nation« herbeigewünscht wurde, um das Trauma der Verspätung zu verarbeiten und eine noch glorreichere Nationwerdung zu imaginieren. Dass diese Perspektive wie bei Goethe so auch bei den Grimms durchaus noch ansatzweise kosmopolitisch geprägt war, zeigt die Bemerkung gegen Ende der »Vorrede«: »Übrigens ist dies nur gegen sogenannte Bearbeitungen gesagt, welche die Märchen zu verschönern und poetischer auszustatten vorhaben, nicht gegen ein freies Auffassen derselben zu eignen, ganz der Zeit angehörenden Dichtungen, denn wer hätte Lust, der Poesie Grenzen abzustecken?« (Brüder Grimm 1994, Bd. 1, S. 24). Hier schimmert bei aller Camouflage durch, dass es für die Grimms kein Problem darstellte, Stoffe auch anderer Sprachen und Kulturen zu bearbeiten, denn es ging ihnen nicht darum, die Stoffe »zu verschönern und poetischer auszustatten«, sondern darum, sie »frei aufzufassen« und der »Zeit« anzupassen.

      Welche fatalen Folgen eine solche kulturpolitische »Saat« außerdem noch haben sollte, konnten die Brüder Grimm natürlich nicht wissen. Es wäre falsch, die Entwicklung, in der die KHM prominent stehen, als Vorbereitung der konservativen Gegenrevolutionen bis hin zum Nationalsozialismus misszuverstehen. Aber ebenso falsch wäre es, nicht die Tendenzen zu sehen, die solche Gegenrevolutionen später begünstig ten.

       2. E.T.A. Hoffmanns Der goldne Topf als Paradigma des Kunst- und Wirklichkeitsmärchens

      Hoffmann verwendet in Der goldne Topf zum ersten Mal konsequent einen Dualismus von auf die zeitgenössische Realität bezogener fiktionaler Realität und Wunderwelt, also einer anderen fiktionalen

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